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Moskau, Wohnung von Ruslan Rachmaninow

Szene 9

«Der Geschmack ist korrekt – aber es ist wie immer viel zu scharf», reklamierte Rachmaninow als sie bei der Hauptspeise angekommen waren. Schon bei der Vorspeise hatte der Koch die Hände verworfen: «Hektor, guter Hektor! Ingwer in einem Pelmeni! Es gab Zeiten, da hätte man dir dafür den Kopf abgehackt. Und als ich reinkam, da roch es nach Chili in der ganzen Wohnung – so etwas haben diese Wände noch nicht erlebt.»

«Korrekt!» Jedem anderen hätte Maille sofort den Teller entzogen. Aus Rachmaninows Mund aber war das fast schon ein Lob. Die Frage der richtigen Schärfe hatten sie schon damals in Paris immer wieder diskutiert – was regt die Geschmacksknospen gerade noch an und ab welchem Punkt werden sie lahm gelegt. Maille wusste, dass Rachmaninow im Grunde recht hatte, dass Chili und Pfeffer schnell einmal die Wahrnehmung feinerer Aromen verhindern. Aber er liebte nun mal scharfes Essen – und suchte also Argumente für seine Barbarei: die Öffnung der Poren, das Vitamin C, das Schwitzen, die Erregung, die Ohnmacht, das Adrenalin, die Lust am kleinen Schmerz… Rachmaninow seinerseits wusste, dass Maille ihm im Grunde recht gab. Also schufen ihre Diskussionen über Schärfe so etwas wie eine Beichtstuhl-Atmosphäre, in der eher Fantasmen im Vordergrund standen als real begangene Sünden. Es ging um den Genuss der Beschreibung von unerhörten Vorgängen, um die Transgression in der Deskription.

Doch dafür war jetzt keine Zeit – schliesslich hatte Maille einen Auftrag zu erfüllen. Er schob Rachmaninow das blaue Blatt mit dem kyrillischen Alphabet hin: «Kannst du damit etwas anfangen?» Während Rachmaninow sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit ein Teigstücke mit Mohnsauce nach dem anderen in den Mund schob, warf er einen schnellen Blick auf das Blatt.
«Klar, da steht Winzawod»
«Winzawod?»
«Ja, schau doch, das ‹В› ist doppelt eingekreist. Das kann eigentlich nur Winzawod heissen.»
«Und wer oder was ist Winzawod?»
«Das kennt hier jeder: ein trendiges Areal mit Galerien, Mode-Boutiquen und so. Edelschnickschnack in den Ruinen einer ehemaligen Weinfabrik im Osten des Zentrums. Einige der Galeristen essen regelmässig bei mir.»
«Sagt dir der Name Anna Schukowa etwas?»
«Nein, aber ich kann fragen.» Rachmaninow griff zum Telefon, wählte, wartete, sprach ein paar Sätze und dirigierte dann mit einem Siegerlächeln das letzte Teigstück auf seinen Teller.
«Deine Dame arbeitet gelegentlich als Dolmetscherin für einige der Galerien in Winzawod – und sie hilft in einem Laden für Künstlerbedarf aus.»
«Danke! Es geht doch nichts über gute Beziehungen zum Klassenfeind.»

Pelmeni nach Art von Maille

Menu Maille

Im Anschluss an dieses Menu aus der Hand von Hektor Maille fiel es Ruslan Rachmaninow leicht, Ordnung in einen russischen Buchstabensalat zu bringen: