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Inmitten einer üppigen Vegetation formen in der Plantation Laozi auch rund 2000 Sternanis-Bäume ihre einzigartigen Früchte aus.
Ein Löwe aus Stein.

Plantation Laozi

Die Plantation Laozi (auf Karte anzeigen), die in einer Grünzone am südöstlichen Rand des Quartier Vapeur liegt, gehört zu den eigenwilligsten Gewürzgärten der Insel. Ihr Geschichte hat viel mit der Residenz  von König Oscar I. (Schloss Kannèl) zu tun, die westlich der Kaserne im Parc de la Brume liegt. Zu dem Schloss gehört auch ein kleiner Hafen, den man bei Flut durch einen Kanal vom Ozean her erreichen kann – mit kleinen Schiffen allerdings nur. Der Hafen heisst heute Port du Chinois. Und das hat seinen Grund. Am 9. August 1832 nämlich, Oscar I. weilt gerade auf Besuch bei Frankreichs «Bürgerkönig» Louis Philippe, ‹landet› in eben diesem Hafen der chinesische Dolmetscher Lǐ Tài Bái (李太白) aus Xi’an – nicht zu verwechseln mit dem fast gleichnamigen Lyriker der Tang-Zeit (Lǐ Bái). 

Zu Unrecht verhaftet. Die Geschichte von Lǐ Tài Bái hört sich abenteuerlich an. Zur Regierungszeit von Kaiser Daoguang wird der Übersetzer, wohl weil er für die Engländer arbeitet, des Opiumschmuggels verdächtigt und verhaftet – zu Unrecht. Nach einigen Wochen im Gefängnis kommt er auf Druck eines Englischen ‹Tee›-Händlers ‹frei›, der ihn als Dolmetscher verpflichtetet und gewissermassen versklavt. 1831 gelangt er mit diesem Händler nach Nassau, wo ihm 1832 die Flucht gelingt.

Ein Boot für die Entenjagd. In einem Teich findet er ein kleines Boot, das er in einem drei Tage dauernden Kraftakt durch Wälder und Sümpfe an die Küste zerrt. Er besorgt sich Trinkwasser und Früchte, stiehlt sogar einen Laib Brot aus einem Laden und sticht dann in See. Bei dem Schiff handelt es sich um ein flaches Segelboot mit Seitenkiel und Kast-Takelung, wie es für die Entenjagd an den Küsten und den Brackwasserzonen gebraucht wird – nicht die beste Wahl für eine Hochseereise, aber Lǐ Tài Bái hat als Landratte kaum Erfahrung mit Booten. Am nächsten Morgen schon bricht erst der Seitenkiel, dann das Ruder und die kleine Nussschale treibt tagelang übers offene Meer. Irgendwann verliert Lǐ Tài Bái vor Hunger und Erschöpfung das Bewusstsein. Der Zufall will es, dass der Nachen in die Baie des Italiens getrieben wird und dort mit der ansteigenden Flut in den kleinen Hafen von König Oscar I. einläuft.

Dicker Nebel. Am Morgen wird das Boot nicht sofort entdeckt, denn wie so oft in dieser Gegend liegt dicker Nebel dicht über dem Boden des Parks. Schliesslich aber sieht ein Gärtner das dunkelrote, vom Wind zerfetzte Segel und findet am Boden des Schiffs einen Mann von äusserst fremdem Aussehen. Er schlägt Alarm, weil er befürchtet, das Boot könne Teil eines geplanten Attentats sein. Man holt die Polizei, schleppt Lǐ Tài Bái in die Kaserne, weckt ihn, päppelt ihn mit etwas Suppe auf und befragt ihn. Obwohl die Beamten nur wenig Englisch können, halten sie den seltsamen Mann doch bald für harmlos und setzten ihn auf freien Fuss. Da Lǐ Tài Bái nicht weiss, wo er hin soll, kehrte er zu seinem Schiff zurück. Erst wollen ihn die Gärtner sofort wieder zur Polizei bringen, dann aber kommen sie auf die Idee, dass sie den Mann ja auch für Kost und Logis in ihren Dienst nehmen könnten – zumal die Gärtnermannschaft etwas unterbesetzt ist und es in den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses genügend unbenutzte Räume gibt.

Königlicher Gärtner. Also tritt Lǐ Tài Bái im August 1832 in den Dienst der Königlichen Gärtnereien. Es zeigt sich, dass der Fremde durchaus Sinn für Gartenarbeit hat – wenngleich viele seiner Kniffe und seiner ästhetischen Entscheidungen den Kollegen etwas seltsam vorkommen. Er lernt auch schnell Französisch und verstrahlt offenbar einen freudigen Enthusiasmus, der ihn den Gärtnern bald zu einem beliebten Kollegen werden lässt. Alle Gärtner im königlichen Schlosspark wohnen nicht nur vor Ort, ihnen steht auch eine kleine Parzelle zur Verfügung, auf der sie Gemüse für ihren eigenen Bedarf anbauen dürfen. Nach einem Jahr stellt man auch Lǐ Tài Bái einen solchen Garten zur Verfügung – gleichzeitig mit seinem ersten echten Gehalt.

Früchte von seltsamem Aussehen. Die lemusischen Kollegen staunen nicht schlecht als in dem Garten des Chinesen nebst Gemüse und Salat auch eine stattliche Anzahl kleiner Bäumchen zu wachsen beginnen – immergrüne Gewächse mit grauen Ästen, ledrigen Blättern und weisslichen Blüten, aus denen sich dunkel gefärbte, sternförmige Kapselfrüchte entwickeln, wie sie auf der Insel noch nie jemand gesehen hat. Tatsächlich trägt Lǐ Tài Bái seit vielen Jahren schon als eine Art Talisman stets ein paar getrocknete Kapselfrüchte von Illicium verum in der Tasche mit. Grund hierfür ist sein Name, Tài Bái (太白), der «Morgenstern» bedeutet, respektive sein Spitzname, Bā Jiǎo [八角], der «Achteck» heisst. Seine Mutter nämlich träumte am Abend vor seiner Geburt von einem hellen Stern mit acht Ecken und deutete dies als ein Omen, als eine himmlische Aufforderung, dem Sohn den entsprechenden Namen zu geben. Sie konnte sich allerdings nicht entscheiden, ob sie ihn Tài Bái oder Bā Jiǎo nennen sollte. Sie entschied sich schliesslich, ihm den etwas feierlicher klingenden Namen Tài Bái zu geben – ihn aber dafür Bā Jiǎo zu rufen. Auch hängte sie ihm von der ersten Nacht an einen Anisstern über die Wiege – ein Schutzstern sozusagen.

Neuartiges Bewässerungssystem. Die Bäume wachsen langsam, ständig umsorgt von Lǐ Tài Bái. Rund vier oder fünf Jahre nach seiner Ankunft auf der Insel kauft der Chinesisch Gärtner für wenig Geld ein Stück Land im Nord-Osten der Caserne des Boeufs – in einer Zone, die damals noch Urwald ist und von keinen Wegen erschlossen. Mitten in diesem Wald legt Lǐ Tài Bái eine Lichtung frei und setzt seine Sternanis-Bäumchen in den Boden. Er pflanzt auch andere Bäume und Sträucher an und hebt für seinen Garten ein raffiniertes Bewässerungssystem aus, ein System aus Kanälen und Seen, wie es der lemusische Gartenbau bis dahin noch nicht gesehen hat. In der Mitte des Gartens baut er auf einer kleinen Insel ein einfaches Häuschen aus Holz, das später durch ein veritables Teehaus im chinesischen Stil ersetzt werden wird. Das Spezielle an dem Garten ist indes nicht nur seine innere Ordnung, sondern auch seine äussere Form, die einen achteckigen Stern beschreibt, die Form von zwei ineinander verschränkten Quadraten. Lǐ Tài Bái setzt auch sein Fluchtboot wieder instand. Er benutzt es als mobilen Geräteschuppen und rudert damit durch die grösseren Kanäle seines Gartens.

Anissterne für die Absinth-Produktion. In den frühen 1840er Jahren tragen die Bäume von Lǐ Tài Bái ihre ersten Früchte. Er spricht bei der Firma «Absinthe Ordinaire» vor, die bald erkennt, dass sich die Sterne des Chinesen als günstiger Ersatz für den ziemlich teuren Doldenblütler Anis (Pimpinella anisum) einsetzen lassen. Man kommt ins Geschäft und Lǐ Tài Bái beginnt, in zunehmendem Umfang Anissterne für die Absinth-Produktion herzustellen. Aus den zwei Dutzend Bäumen des Anfangs werden bald mehr als hundert Gewächse und in den 1870er Jahren sollen es bereits mehr als 200 gewesen sein – was einen jährlichen Ertrag von etwa 2000 kg Sternanis entspricht.

Der erste Lǐ der Geschichte. Als Gewürz findet der Sternanis zunächst keinerlei Berücksichtigung auf der Insel. Das änderte sich erst als um 1860 in mehreren Wellen rund zweitausend Arbeiterinnen und Arbeiter aus China auf Santa Lemusa eintreffen (siehe Quartier Vapeur). Sie sind es gewohnt, mit Sternanis zu kochen – und aus ihren Küchen heraus diffundiert das Gewürz auch mehr und mehr in lemusische Rezepte hinein. In Anlehnung an den ersten Lǐ (李) der Geschichte, Lǐ Ěr (耳, Ěr = Ohr), besser bekannt als Laozi, den mystischen Begründer des Daoismus, gibt der Sternanis-Bauer seinem Garten den Namen Plantation Laozi. Das Gewürz selbst nennt er Baschi, eine lemusische Form seines Spitznamens Bā Jiǎo und zugleich eine Bezeichnung für Sternanis in Mandarin. Wann die Sternchen den Zunahmen «Dao» bekommen haben, ist nicht bekannt.

Familientradition. Im Alter von mehr als sechzig Jahren heiratet Lǐ Tài Bái die 24jährige Tochter eines früheren Polizeibeamten aus Guangzhou und zeugt mit ihr einen Sohn und sieben Töchter. Erst als Lǐ Tài Bái um 1890 im Alter von etwa neunzig Jahren stirbt, übernehmen sein Sohn und eine Tochter die Leitung der Plantation Laozi und führen sie im Sinne ihres Vaters fort. Auch die folgenden Generationen bleibt der Familientradition treu. Zwar wird die Plantation mehrfach renoviert und ab und zu müssen auch Sternanis-Bäume gefällt und durch neue ersetzt werden (obwohl Illicium verum ja bis zu hundert Jahre alt werden kann). Auch wächst die Stadt mehr und mehr an die Plantage heran – und was einst weit ausserhalb von Port-Louis lag, liegt nun mittendrin. Die Anlage behält jedoch durch all die Jahrzehnte hindurch nicht nur ihre äussere Sternform, sonder auch ihren inneren Charakter eines ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Gartens.

Rekonstruktion des originalen Fluchtboots. Daran will auch Lǐ Zhen Hua nichts ändern, der die Plantation Laozi heute führt – in der siebten Generation. Als ausgebildeter Koch und als Künstler legt er zwar nur noch selten selbst Hand an in dem Garten, dafür aber beschäftigt er sich verstärkt mit dem Begründer der lemusischen Lǐ-Familie – dem unterdessen legendär gewordenen Lǐ Tài Bái. Was ihn in besonderem Masse umtreibt, sind die Umstände seiner Flucht von den Bahamas: das kaum hochseetüchtige Boot und der Kraftakt, diesen Nachen quer durch Wald und Sumpf zu zerren. In einem ersten Schritt dreht Lǐ Zhen Hua ein Video, das ein sanft im Nebel schaukelndes Boot zeigt. Dazu liest eine helle Stimme in mehr als sechzig Sprachen den Namen von Sternanis vor – mit allen entsprechenden Ausspracheschwierigkeiten. Das originale Fluchtboot von Lǐ Tài Bái wurde irgendwann noch im 19. Jahrhundert durch ein einfaches Ruderboot ersetzt. Der Künstler aber findet eine Zeichnung des kleinen Nachens und baut das Schiffchen im Sommer 2012 mit Hilfe eines Bootsbauers aus Port-Louis nach. Er tauft das Schiff nach seinem Vorfahren auf den Namen «Étoile du Matin» respektive Tài Bái. Bevor das Boot seinen offiziellen Stapellauf erlebt, wird es im Rahmen der von Marianne Barges kuratierten Ausstellung «Traverses – grandes fuites et petites fugues» im Musée d'Art Contemporain in Port-Louis gezeigt. Marianne Barges, die Direktorin der Institution, ist seit 2007 mit Li Zhen Hua verheiratet. Nach der Schau im MACSL wird die «Étoile du Matin» in die Schweiz geschafft und geht am 19. Oktober im Rahmen des Projekts «44/33» im Brunnen des Stadtspitals «Triemli» vor Anker (mehr dazu). Wann und in welchem Gewässer das Boot seine Jungfernfahrt erleben wird, ist derzeit noch unklar.

«Baschi Dao», der Sternanis aus dem Garten von Lǐ Tài Bái, erfreut sich auf Santa Lemusa grösster Beliebtheit und wurde bereits 1966 mit einem AOC-Zertifikat ausgezeichnet.

Im Zentrum der Plantation trifft man auf ein Teehaus im chinesischen Stil, das teilweise auf Stelzen im Wasser steht.
Ein Löwe aus Stein.
Auch die überall im Garten hängenden Lampions tragen viel zu der Stimmung in der Plantation bei.
Ein Löwe aus Stein.
Der Künstler und Koch Li Zhen Hua mit seiner Frau Marianne Barges, der Direktorin des Musée d'Art Contemporain. Das Paar wohnt seit einigen Jahren im Quartier Vapeur.
Ein Löwe aus Stein.

Siehe auch

First Publication: 22-10-2012

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