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Logbuch der «PS Narina»

Tag 38

Luft- / Wassertemperatur: 25°C (19°C nachts) / 18°C

Windrichtung / Bft: Westnordwest / 1

Gebiet: MAGNA INSULA (eine rasende Haut) – Seekarte der Reise

Kombüse: Malabar Trevally (1.2 kg) ausnehmen, filetieren, von der Haut ziehen, abspülen und trocken tupfen. Filets in 5x5 cm grosse Stücke schneiden. 3 EL Reiswein, 1 EL Mehl, eine Prise Salz zu einer Marinade verrühren und den Fisch 30 Minuten darin ziehen lassen. 200 g Chinakohl kurz blanchieren, in 2 cm breite Streifen schneiden und in eine grosse Schüssel geben, die später auch alle anderen Zutaten aufnehmen kann. 8 getrocknete rote Chilis in einer nicht beschichteten Pfanne rösten und fein hacken, 1 EL Sichuanpfeffer rösten und dann im Mörser zerstossen, beiseite stellen. 2 EL Öl in einem Wok erhitzen, 2 EL Sichuan-Chili-Bohnen-Paste darin anziehen lassen bis es duftet. 2 asiatische Frühlingszwiebeln in 2 cm langen Stücken, 50 g frischer Ingwer geschält und fein gehackt, 4 Knoblauchzehen fein gehackt beigeben und kurz anziehen lassen. 4 dl nicht zu starke Hühnerbrühe, 2 EL helle Sojasauce, 2 EL heller Reisessig, 1 EL dunkler Chinkiang-Essig, 1 TL Zucker beigeben und aufkochen lassen. Mit Salz abschmecken. Hitze reduzieren, Fischfilets in die Sauce heben und 3 Minuten köcheln lassen. 100 g Glasnudeln mit heissem Wasser übergiessen, zwei Minuten ziehen lassen, abtropfen und mit dem Chinakohl in der Schüssel vermischen. 1 EL Sesamöl dazugeben. Fisch mitsamt Sauce über Glasnudeln und den Chinakohl geben. Mit 1 EL asiatische Zwiebel in Ringen bestreuen. Etwas vom gehackten Chili und Sichuanpfeffer darüber geben, Rest separat dazu servieren. (Mehr Rezepte vom Smut der «PS Narina»)

Beobachtungen

Das war knapp. Sekundenlang flogen wir durch die Luft und ich dachte schon, wir würden nicht in einem Stück unten ankommen. Jetzt sieht mich Oskar an, als ob ich das Boot mit Absicht über den Wasserfall gesteuert hätte. Ich weiss, dass es Zeitgenossen gibt, die gefährliche Situationen brauchen, um sich lebendig zu fühlen. Oskar gehört offenbar nicht dazu. Das erinnert mich an eine Begebenheit, die sich kurz vor Beginn unserer Reise in einem Hotel zutrug.

In Hotels neige ich dazu, vor laufendem Fernseher einzuschlafen. Meist wache ich dann mitten in der Nacht auf, taste das Bett vergeblich nach der Fernsteuerung ab, um schliesslich aufzustehen und leise fluchend den Stecker aus der Wand zu reissen. Bevor das Bild ins Nichts einbricht, nimmt das Hirn aber meist noch die letzten Sekunden der gerade laufenden Sendung wahr. In der Nacht vor unserer Ablegung flimmerte eine Sitcom mit lauter schönen Menschen über den Bildschirm – wahrscheinlich die Wiederholung einer amerikanischen Vorabendserie. Zwei Studentinnen, eine Blondine und eine Inderin, sassen in einer Art Kurs. Der Dozent, ein junger Inder mit einem Bollywood-Gesicht, stand direkt vor ihnen, flankiert von zwei kaum meterhohen Kokospalmen. Alles wirkte sehr hell und sauber. Mit ausgebreiteten Armen erzählte der Dozent von einem Volk oder einer Religionsgemeinschaft: «Die Vadevaden sehen den Augenblick des Todes als den Moment der höchsten Gegenwart an, als das absolute Hier und Jetzt.» So sprach er, und im selben Moment begannen sich die zwei Frauen vor ihm zu streiten. Mit einem elektronischen Rülpser verschwand das Bild, und ich schlief bald wieder ein.

Als ich indes am Morgen aufwachte, musste ich an die nächtlichen Fernsehsekunden zurückdenken. Hatte ich diese Szene wirklich gesehen? Oder hatte ich in meinem nebulösen Zustand etwas ganz falsch verstanden? Ich beschloss, die Sitcom auf die bewusste Stelle hin abzusuchen und meine nächtliche Wahrnehmung zu überprüfen. Das Internet erlaubt es uns ja, auch vergangene Sendungen zu schauen. Ich durchsuchte also das Nacht-Programm des Senders, mit dem ich eingeschlafen war – doch da gab es nichts, was auch nur annähernd zu den Bildern in meinem Kopf passte.

Sicher war all dies nur ein Missverständnis – eines jedoch, das sich nicht aufklären liess. Und also bekam das Erlebnis ein wenig den Charakter einer nächtlichen Vision. Ich suchte das Internet nach den Vadevaden ab – vergeblich, sie existierten auch im www nicht. Ich probierte alle möglichen Schreibweisen und Versionen aus – nichts. 

Was mich im Zusammenhang mit meiner Sitcom-Vision auch heute noch beschäftigt, ist der Gedanke, dass man das Leben als die Vergangenheit vor dem Tod ansehen kann. Die Idee hat etwas radikal Neues für mich. Obwohl die Vorstellung, dass man erst im Moment des Todes das Hier und Jetzt erreicht, auch zur Gedankenwelt einer vielleicht ja tatsächlich existierenden indischen Sekte passen könnte. Dass man den Tod nicht als ein Ende ansieht, sondern als ein Ankommen, spielt in vielen Religionen eine Rolle – ist aber in der Regel vor allem mit einem Jenseitsversprechen verknüpft. Bei meiner TV-Vision ist das anders, hier liegt das Gewicht stärker darauf, den Tod als den ultimativen Berührungspunkt mit der Gegenwart anzusehen, als ein Ankommen in der Wirklichkeit. Die Vorstellung des Lebens als Vergangenheit vor dem Tod, hat seltsamerweise überhaupt nichts Beklemmendes – im Gegenteil: Sie erlöst uns von dem Stress, andauernd nach dem Erlebnis des Hier und Jetzt, nach dem «einfachen Sein» oder der «wahren Existenz» suchen zu müssen, wie es heute sämtliche Ratgeber von uns verlangen. Die Entlassung aus solcher Daseins-Nervosität provoziert eine leicht traumwandlerische Gelassenheit und weckt das schöne Gefühl, dass sich leicht unwirkliche Räume doch eigentlich noch viel freier gestalten lassen müssten.

Und trotzdem: Wäre Oskar damals dabei gewesen, ich würde alles unternehmen, die Wahrheit über jene Nacht aus ihm heraus zu holen.

Nächster Tag (39)

First Publication: 10-4-2013

Modifications: 11-11-2014