Rosmarin

Immer kommen mir Wälder in den Sinn. Manchmal ein lichter Pinienhain, wie man ihn im südlicheren Italien nahe den Küsten findet. Dann ein dunkles Gestrüpp aus Tannen, eine verwilderte Ecke im Schwarzwald. Oder noch der magische Zedernwald nahe Silifke am Fuss des Taurusgebirges, in dem ich vor vielen Jahren mit meinem Zelt und einer kleinen Katze Schutz vor der Hitze des Sommers fand. Rosmarin lässt aber nicht nur Nadelhölzer spriessen, auch Eukalyptus und Zitronenbäume wachsen, Wälder aus Rosen, Geranien, Selleriestauden, Gewürznelken und Pistazien ranken sich empor. Der Lippenblütler ist ein Chorstück für die Nase, in dem die Stimmen verschiedener Gehölze auf vielfältige Weise zum Klingen kommen. Doch damit nicht genug. Die besondere Lebendigkeit seines Duftes rührt daher, dass wir während des Riechens immer wieder einen Perspektivenwechsel erleben. In einem Moment gehen wir durch den Wald, hüllen uns seine Odeurs ein. Im nächsten Augenblick aber spazieren wir über ihn hinweg, breitet er sich zu unseren Füssen aus wie eine Blumenwiese – und nun tritt natürlich auch sein Parfum mit anderer Distanz an uns heran.

Dieses enorme Aromaspektrum, aus dem kein Einzelgeruch als Protagonist hervorsticht, macht den Rosmarin zu einem gewaltigen Parfum. Und dabei ist der Strauch ein ganz und gar anarchischer Charakter, der sich von keiner Macht und keinem Geld in Dienst nehmen lässt – und auch im ärmsten Bauerngarten grosszügig wächst.

Seiner leichten Verfügbarkeit ungeachtet hat der Rosmarin für die Menschen immer eine grosse Bedeutung gehabt. Das beginnt schon in der Antike, wo ein Kranz aus Rosmarin den Göttern im Olymp mehr gegolten haben soll als ein Kranz aus Gold. Rosmarin war damals auch als Heilmittel wohlbekannt, Plinius («Naturgeschichte», IV, 59) zählt eine ganze Reihe von Anwendungen auf – in der Küche aber wurde er offenbar noch nicht eingesetzt, bei Apicius («De re coquinaria») jedenfalls kommt er nirgends vor. Höchstwahrscheinlich fand die Pflanze mit den Römern den Weg aus ihrer mediterranen Heimat in die Länder des Nordens. Ab wann der Rosmarin auch als Gewürz verwendet wurde, lässt sich nicht genau sagen. Till Eulenspiegel, dessen dreiste Streiche erstmals um 1510 publiziert wurden, hat seine Würzkraft auf jeden Fall bereits geschätzt und besorgt sich das Kraut in der 11. Historie: «Ulenspiegel gieng mit im in den garten und schneid roszmarin, da mit er die hüner füllen wollt, uff welsch monier». Und Pietro Andrea Matthioli empfiehlt Rosmarin Ende des 16. Jahrhunderts in seinem «Kreuterbuch» (S. 274) explizit auch für die Küche: «Die Rosmarin gehört […] in die Küchen, Keller und Apotheken, darum dass alle Kost, Speiss und Trank mit Rosmarin angericht, lieblich und wolschmecken, auch wider mancherley gebrechen behülflich sind.»

Rosmarin ist nicht nur ein immergrüner Strauch – seine Zweige behalten auch abgezwackt ausserordentlich lang ihre Frische. Kein Wunder also, wurde er auch nördlich der Alpen schon im Mittelalter mit allerlei symbolischen Bedeutungen versehen – fast durchgängig verknüpft mit einem Wunsch nach Dauer. Man nahm ihn als Garanten für unablässige Liebe, wand Brautkränze aus ihm oder steckte ihn sich bei Hochzeiten ans Revers. Das war, wenngleich Myrtenkränze mit der Zeit üblicher wurden, sogar Ende des 19. Jahrhunderts noch so als Luise Hensel ihr Gedicht «Rosmarin» schrieb: «Grüne Blätter, blaue Flocken / Stehn wohl fein im blonden Haar / Duftig weh' ich in den Locken / Tritt die Jungfrau zum Altar».

Auch für Liebeszauber wurde Rosmarin vielfach eingesetzt und landete so heimlich unter Kopfkissen oder in den Kleidern der Angebeteten. In einem schweizerischen Volkslied macht ein junger Mann die Ersehnte gar selbst zum Rosmarinzweig wenn er singt: «0 du liebs Ängeli / Rosmarinstängeli / Alliwil, alliwil / Denk i an di». Charlotte Beck («Pfefferland», S. 204ff.) hat solche Rosmarinlieder ausgiebig untersucht und zählt zahllose weitere Beispiele auf – bis hin zu dem englischen Volkslied «Scarborough Fair», das Simon & Garfunkel zu einem ihrer Herzensbrecher eingeschmolzen haben.

In manchen Gegenden gab man den Verstorbenen früher Rosmarinzweige mit in den Sarg und versicherten ihnen so symbolisch, dass man sich immer an sie erinnern werde – dass mit dem starken Kraut auch schlechte Düfte übertüncht werden konnten, war sicher ein willkommener Nebeneffekt. «Aus den Fenstern fliegt die Taube zu dem stillen Kirchhof hin / Und zurück dann bringt zur Leiche sie ein Zweiglein Rosmarin», heisst es etwa in einem Gedicht von Anastasius Grün. Und bei Johann Peter Hebel denkt sich der Duttlinger während er dem Begräbniszug des reichen Herrn «Kannitverstan» folgt: «Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch, und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust».

Auch bei Shakespeare kommt der Rosmarin mehrfach vor und ist dort zugleich Liebes- und Todespflanze. Im «Hamlet» etwa hat er seinen Auftritt als Teil eines Sträusschen in der Hand von Ophelia: «There's rosmary, that's for remembrance; pray, love, remember», haucht sie und treibt wenig später tot durchs Wasser.

In Pestzeiten galt Rosmarin als mächtiges Abwehrmittel und wurde zeitweise sogar richtig teuer verkauft. Da die Krankheit mit starkem Gestank verbunden war, entwickelten die Menschen damals eine veritable Angst vor dem Duft ihrer Zeitgenossen – und versuchten sich mit olfaktorischen Schildern zu schützen, zu denen sehr oft auch Rosmarin gehörte. Auch eines der berühmtesten Parfums der Weltgeschichte hat seinen Ursprung im Wunderwasser (Aqua mirabilis) jener Zeit: Eau de Cologne, erfunden von einem in Köln lebenden Italiener namens Johann Maria Farina (1685-1766), bestand zur Hauptsache aus in Alkohol gelöstem Rosmarin und Zitrusessenzen und wurde zu Beginn auch als Schutz vor der Pest angepriesen. Auch das moderne «Kölnisch Wasser» soll noch Rosmarin enthalten.

Manchenorts hielt man Rosmarin auch für einen veritablen Jungbrunnen – so berichtet etwa Hansjörg Küster («Kulturgeschichte der Gewürze», S. 220) von der «ungarischen Königin Isabella, die, als sie 72 Jahre alt war, ihre Zipperlein mit Rosmarinöl kurieren liess und danach so jung aussah, dass der polnische König um ihre Hand anhielt.»

All seinen wundersamen Eigenschaften zum Trotz gehört aber immer auch eine düstere Seite zum Rosmarin. «Du ernster Rosmarin! du Freund der Trauer / Hebst sinnend treu das immergrüne Haupt», heisst es etwa bei Clemens Brentano. Wenn Rosmarin welkt oder verdorrt, dann soll das in früheren Zeiten gar Krankheit oder Tod naher Menschen angekündigt haben – so wie in dem Volkslied vom Rosmarinbaum: «Ich hab die Nacht geträumet / Wohl einen schweren Traum / Es wuchs in meinem Garten / Ein Rosmarienbaum // Ein Kirchhof war der Garten / Ein Blumenbeet das Grab / Und von dem grünen Baume / Fiel Kron und Blüthe ab / […] Was mag der Traum bedeuten? / Ach Liebster, bist du todt?»

Wer sich einen frischen Rosmarinzweig unter die Nase hält, der denkt allerdings ganz und gar nicht an solch düstere Aussichten – eher kommen einem da Worte wie «Aufwachen» oder «Aufwecken» in den Sinn. Kein Wunder verkauft die Firma «Weleda» ein «Rosmarin-Aktivierungsbad». Es gibt Gewürze, die versetzen und in eine träumerische Stimmung – der Rosmarin aber bewirkt das Gegenteil, er holt uns in die Wirklichkeit zurück. Das braucht nicht unbedingt so zu geschehen wie in dem Gedicht «Der Rosmarinkäfer» von Ida Polter (aus «Die Frau aber am Fenster», S. 101), wenngleich uns der darin enthaltene Perspektivenwechsel eben doch sehr gut zu diesem wunderbaren Kraut zu passen scheint: «Der Duft von Rosmarin hat mich geweckt / der Südwind hat ihn zu mir hin geleckt / Im Traum noch war ich ein Mensch und mächtig / doch ich fühl mich auch als Käfer prächtig / also nehme ich nun den Rosmarin / wieder als meine eigne Heimat hin / und was könnt einen glücklicher machen / als in seinen Zweigen zu erwachen.»

Dieser Text ist Teil der Serie «Mundstücke» (??).