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Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

Ein Fächerpantoffel für die Waffenmeisterin

Kolkata (India) Indian Museum
27, Jawaharlal Nehru Road, Park Street Area
Samstag, 31. März 2012

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Wenn wir die Welt wie einen Globus zwischen unseren Händen hielten, und in einem Moment all die folgenreichen Dinge beobachten könnten, die gerade passieren – was würden wir sehen?

Nordamerika. Nach zehn Tagen wird Stefan Seifer , pensionierter Korrektor einer Deutschen Tageszeitung, aus dem Zentralgefängnis von Vancouver entlassen. Er war mit seiner Frau nach Kanada gefahren, um ihrem gemeinsamen Hobby nachzugehen: dem Erleben von Redensarten. Nachdem er seine Frau schon mehrfach auf Rosen gebettet und auf Händen getragen hatte, hatte er beim Rosewall Creek versuchte, ihr einen kleinen Braunbären aufzubinden. Der Ranger, der sie dabei beobachtet hatte, konnte das nicht verstehen.

Südamerika. Jutta Baumkötter, Spezialistin für internationales Versicherungsrecht und Marathonläuferin aus Hannover, geniesst beim Joggen auf der Copacabana den leichten Schmerz, den das tropennasse T-Shirt in ihre Brustwarzen reibt. Tonino «o pescoço» Andrade treibt in der Churrascaria «Carretão» seine Gabel in das Fleisch des dritten Kilos Tafelspitz. Längst hält er den Weltrekord im Picanha-Essen – doch das weiss keiner, auch Tonino nicht. Als Jutta Baumkötter am «Carretão» vorbeifliegt, hat sie ein Gefühl in ihrem Bauch, als wedle darin ein Hund mit seinem Schwanz. Zwei Tage später, kurz nach Mitternacht, auf 10'000 Meter Höhe, in der Business-Klasse von TAM-Flug 8078 nach New York, hat Jutta Baumkötter das Wedel-Gefühl zum zweiten Mal. Neben ihr sitzt Tonino «o pescoço» Andrade und leckt sich die Mayonnaise seines achten Lachsbrötchens von den Fingern. Sieben Tage später treten Jutta Baumkötter und Tonino Andrade vor dem Altar der St. Patrick’s Cathedral an Manhattans Fifth Avenue in den heiligen Bund der Ehe ein.

Antarktis. Beim Ausheben einer Terrasse für einen neuen Container, der östlich der McMurdo-Station platziert werden soll, stösst Baggerfahrer Clive Corleone auf eine intakte Dose mit «Nestle’s Kindermehl». Er hat keinerlei Zweifel, dass sie aus den Vorräten stammt, die Robert Falcon Scott in die Antarktis mitgenommen hat. Zur letzten Weihnacht hat Clive Corleone von seiner Stiefmutter ein Schweizer Taschenmesser mit 40 Funktionen geschenkt bekommen, das ihn seither durch all seine Tage begleitet. Folglich kann es nur Gottes Wille sein, dass er die Dose an Ort und Stelle öffnet.

Europa. Im Vatikan schlägt Kurienkardinal Giorgio Vinanser die Augen auf, eine kleine Pression auf der Blase hat ihn geweckt. Er dreht sich auf die Bettkante hoch und seine Füsse tasten nach den Kardinals-Pantöffelchen, die da unten irgendwo stehen müssen – hat der Teufel sie nicht gestohlen. Er findet sie nicht, der Druck nimmt zu und also beschliesst Giorgio, barfüssig ins Bad zu eilen. Deckel hoch, absitzen, Erlösung. Während Giorgio mit einem leichten Hin und Her der Hüften die letzten Tropfen abschüttelt, spürt er unter seinen Füssen etwas Weiches. Es ist ein Badezimmerteppich – dunkelgrün mit einem goldenen Rand. Auf was für Ideen diese Herren Inneneinrichter kommen! Aber das Gefühl ist doch sehr angenehm, als wäre da etwas Lebendiges unter den Fusssohlen, so ein Streicheln, sanft, weich und zugleich fest, fast feucht und doch nicht nass. Was für ein tiefer, was für ein wunderbarer Reiz. Er wird sich gleich morgen von seinem Inneneinrichter ein weiteres Flauschelchen bringen lassen – vielleicht gibt es zu dem Gefühl ja Varianten. Bis zum Ende seiner Amtszeit wird der Vatikan die weltweit grösste Sammlung von Badezimmerteppichen besitzen – bekannt wird das aber erst im Jahr 2024 infolge einer Dissertation über Randgebiete der vatikanischen Kollektionen.

Afrika. Moïse Enie Tsenie, autodidaktisches Physik-Genie und Häuptling des südkongolesischen Dorfes Utubomo, erklärt seinem Sohn Isa, mit was für einem simplen Trick man die Klimaerwärmung sofort stoppen könnte. Der Sohn blickt auf die Formel, die sein Vater mit dem Finger in den Sand geschrieben hat, umarmt seinen Papa, rennt in den Wald und erlegt mit seiner Steinschleuder den letzten zeugungsfähigen Grossnasen-Bonobo des Planeten.

Asien. In der Offiziers-Messe von Projekt «667BDR» mit dem Decknamen «Kalmar» und dem Kosenamen «Kroliki» gibt sich U-Boot-Kapitän Witali Wassiljewitsch Petrow seiner grossen Leidenschaft hin: der hohen Kunst des Serviettenfaltens. Für seinen ersten Offizier fälbelt er einen Eberkopf, für den Funkoffizier eine Bischofsmütze, der Schiffsarzt bekommt ein Steckkissen, die Waffenmeisterin einen Fächerpantoffel, und für sich selbst faltet er einen Kaktus, der allerdings – wie immer – nicht ganz gelingt. Er bringt seine Kunstwerke sorgfältig auf den Tellern in Position, tritt ein wenig zurück und lässt den Blick zufrieden über seine Schöpfungen gleiten. Bald wird die «Kroliki» einen Hafen anlaufen müssen, um eine neue Ladung gestärkter Servietten an Bord zu nehmen. Was Witali Wassiljewitsch Petrow wieder vergessen hat ist, dass seine Mannschaft seit Monaten nicht mehr an Bord ist und Projekt «667BDR» im Trockendock der Sewerodwinsker Swjosdotschka-Werft auf die Verschrottung wartet.

Ozeanien. Nach der Abschlussparty des 24. Internationalen Orthodontie-Kongresses von Adelaide stellen Philippa Magomeni, Forschungsleiterin bei 3M Unitek, und Manuel van der Graaf, Kieferchirurg aus Utrecht, belustigt fest, dass sie auf dem 10. Stock des Hotels «Stamford Grand» zufällig Zimmernachbarn sind. Sie haben sich den ganzen Abend lang gut unterhalten. Philippa bittet Manuel, ihr den Reissverschluss am Rücken ihres Abendkleides zu öffnen. Leise knirscht der Metallgleiter durch den Stoff. Manuel fragt sich, ob er Philippa sagen soll, dass sie ein schönen Rücken hat. Als seine Hand auf der Höhe ihrer Hüften anlangt, fragt er nur: «Gut so?». Philippa zieht sich in ihr Zimmer zurück und schreibt eine SMS an ihren älteren Bruder – in zwei Wochen wird sie ihre Jugendliebe heiraten, mit der sie schon seit acht Jahren zusammenwohnt. Manuel holt ein Fläschchen «Johnny Walker» aus der Mini-Bar, öffnet das Fenster und legt sich aufs Bett. Draussen schlagen die Wasser des Indischen Ozeans regelmässig gegen den Strand. Manuel sagt sich, dass Philippa im Zimmer nebenan jetzt sicher daran denkt, dass er ja die selben Wellen hört wie sie.

In einer Ecke hinter der Mineralien-Abteilung des Indian Museum in Kolkata entdeckt Peter Polter einen alten Globus. Er sucht darauf nach der Insel Santa Lemusa und merkt dabei nicht, dass die Wärter längst gegangen sind und das Museum zugesperrt haben.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Potol Posto (Wachskürbis in einer Sauce aus weissem Sesam, grünem Chili und Senföl)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 23-6-2013

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