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«Kochbuch»

Es war das widerlichste Objekt im Hause meiner Eltern – einmal abgesehen vielleicht von der Schatzkiste, in der mein kleiner Bruder seine Schokolade immer so lange hortete, bis sich furchterregende Schimmelkulturen im Inneren der farbenfrohen Papierverpackungen gebildet hatten. Ich staunte oft darüber, dass ein Buch überhaupt in einen solchen Zustand geraten konnte. Denn das Ding roch nach ranzigem Fett, nach modrigem Keller, nach zerlebtem Papier, nach vergossenem Schnaps, nach verirrter Hefe, nach verkrustetem Blut. Wer seinen Einband berührte, spürte unmittelbar den Wunsch, sich sofort die Hände zu waschen. Wenn man es öffnete, dann gab es ein Schmatzen von sich, das sogar unseren untadeligen Bloodhound zusammenzucken liess.

So eklig das Ding auch war, es hatte eine absolute Sonderstellung unter den Büchern des Hauses: Während sich all seine Artgenossen Flanke an Flanke in überfüllten Regalen zusammenquetschen mussten, lag es ganz für sich allein in einer Küchenschublade – als handle es sich um ein Tranchiermesser, eine Gemüsereibe oder ein anderes Werkzeug zur Nahrungsmittelzubereitung. Und im Grunde war es wohl genau das, längst nicht nur in unserem Haushalt, sondern in den meisten Küchen der deutschsprachigen Schweiz: ein Werkzeug zur Speisebereitung.

«Die Fülscher», wie das «Kochbuch» des gleichnamigen Fräuleins mit Vornamen Elisabeth genannt wurde, hatte indes auch den Status einer Bibel, deren absolute Wahrheiten man sich im Zweifelsfall gegenseitig unter die Nase reiben konnte. Und nur, wer die Gebote dieser 658 Seiten befolgte, konnte darauf hoffen, dem Fegfeuer eingefallener Soufflés und geronnener Béarnaisen zu entkommen – und dereinst mit einem perfekten Schinkensülzchen vor dem jüngsten Gericht akkurater Haushaltsführung zu erscheinen. Zum biblischen Charakter des Kochbuchs passte auch, dass jedes der 1765 Rezepte seine eigene Nummer hatte. So, wie es das erste Buch Mose 9,3 gab («Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise») – so gab es auch das erste Buch Fülscher 799 («Hammelcôtelettes à la Nelson»).

Das System der Nummern diente vor allem dazu, Wiederholungen im Text durch die Arbeit mit Verweisen zu vermeiden – so liest sich etwa Rezept 808 wie folgt: «Gitziküchlein. 1 kg Gitzi – Ausbackteig Nr. 931 (I. oder II. Art) – Backöl. Kochen des Gitzi wie Kalbsragout Nr. 716. Die Stücke gut abtropfen lassen, im Teig wenden und schwimmend hellbraun backen (siehe Nr. 889).» Die Tatsache, dass man während der Umsetzung eines Rezepts ständig in dem Buch hin und her blättern musste, war sicher mit schuld daran, dass jede Speise materielle Spuren auf den Seiten hinterliess. Aus heutiger Perspektive erinnert das System der Nummern und Verweise auch an das Internet mit seinen Hyperlinks – wobei auch ein Hirnpudding (Nr. 291) auf den virtuellen Seiten natürlich keine Spuren hinterlässt. Das Nummern-System machte auch die Herkunft des Buches aus dem Umfeld einer Kochschule sichtbar – ging es dem Werk doch nicht nur darum, Rezepte zu versammeln, sondern Kochkunst zu lehren. Dazu passten auch die allgemeineren Ausführungen, die einzelne Rezept-Gruppen einleiteten – Nr. 344 etwa erklärt «Grundsätzliches über Pilze und ihre Verwendung», und unter der Nr. 823 lernt man das «Vorbereiten der Eingeweide» von Geflügel.

So begriff auch der ehrgeizige Zauberlehrling am elterlichen Herd eines Tages, dass die Welt der Küche nicht aus zahllosen, oft willkürlich erscheinenden Einzelgesetzen besteht, sondern alles einen Zusammenhang hat. Die Kochkunst kam ihm nun plötzlich wie eine Interpretationskunst vor, vergleichbar etwa dem Spiel einer Geige. Es ging darum, sich durch das Üben von Tonleitern bestimmte Handgriffe anzueignen, sich mittels Etüden mit den Gesetzmässigkeiten von Emulsion und Maillard-Reaktion vertraut zu machen – um dann mit diesen Fertigkeiten eine Beethoven-Sonate ebenso in Angriff zu nehmen wie ein Stück von Hecht, von Hammel oder die fliegende Holländertorte.

Die Karriere von Elisabeth Fülscher (1895 bis 1970) begann mit einer Ausbildung als Hauswirtschaftslehrerin, die sie in die Kochschule von Anna Widmer in Zürich führte. Widmer realisierte bereits 1923 ein erstes Kochbuch. Nach dem Tod ihrer Mentorin übernahm Fülscher 1930 die Kochschule und sicherte sich die Rechte an dem Buch, das sie nun unter ihrem eigenen Namen im Selbstverlag publizierte. Ihre Schwester Johanna zeichnete zahllose Illustrationen dazu, die als kleine und kleinste Vignetten neben jedem Rezept erschienen – und wesentlich zum optischen Reiz des Werks beitrugen. Zwischen 1934 und 1966 überarbeitete Fülscher das Buch fünfmal – und passte es den knappen Zeiten während der Kriegsjahre ebenso an wie den neuen Möglichkeiten der wirtschaftswunderlichen Welt. Auch die Kochschule in Zürich führte Elisabeth Fülscher bis zu ihrem Tod 1970.

Die letzte von Fülscher selbst betreute Ausgabe erschien 1966 – und genau diese Edition war es, die sich durch meine Kindheit geschmatzt hat. Das Buch bot nebst den erwähnten Zeichnungen auch gemalte Farbbilder, strenge Schwarz-Weiss-Fotos von Hans Finsler und ganzseitige Farbfotografien von dessen Schüler Bernhard Moosbrugger – üppige Arrangements, deren Anblick auch deutlich macht, wie sehr sich unsere Auffassung von Essen, von kulinarischem Luxus und Tafelfreude in den letzten fünfzig Jahren verändert hat. Verändert hat sich auch die grafische Gestaltung von Kochbüchern - ein Sammelsurium von Bildern ganz unterschiedlicher Natur, wie es «die Fülscher» von 1966 bot, hätte es heute wohl schwer auf dem Markt. Doch «die Fülscher» war eben nicht das Ergebnis einer bewussten Projektplanung, sondern das Resultat einer über Jahrzehnte fortlaufenden Anhäufung von Erfahrung, von Texten, von Rezepten, von Bildern. Und darin erinnert das Buch auch ein wenig an ein Blog, die heutige Form, seine sich ständig erweiternde Erfahrung fortlaufend öffentlich zu machen.

Nach dem Tod von Elisabeth Fülscher wurde ihr Buch in einer Reihe von eher glanzlosen Ausgaben wiederaufgelegt. Nun aber haben Susanne Vögeli und Max Rigendinger, gastrosophische Autoren und Betreiber einer Kochschule in Aarau, die Ausgabe von 1966 als Faksimile herausgebracht. Zwischen die Seiten, die bis hin zu dem seidig gestrichenen Papier ein perfektes Imitat der Edition von 1966 darstellen, wurden ein paar graue Blätter eingefügt, auf denen sich Texte verschiedener Autoren finden, die Fülschers Leistung aus heutiger Sicht würdigen. Elisabeth Joris etwa beschreibt die Karriere von «Fräulein Fülscher» (wie die erfolgreiche Geschäftsfrau selbst genannt werden wollte), André Heller zeichnet nach, wie sich unser Umgang mit Fleisch seit 1966 verändert hat, Max Küng analysiert die Bilder in dem Buch, Christian Seiler vergleicht die Fülscher mit Betty Bossi, Marianne Kaltenbach und Jamie Oliver, und Stefan Zweifel kaut sich durch Konsonanten und Worte, um die «Mutterrezepte in die Vatersprache» zu übersetzen.

«Die Fülscher schreibt aber….», das war der Satz, der mich oft auf den Pfad des kulinarischen Anstands zurückgebracht hat. Eines Tages aber habe ich dann trotzdem angefangen, immer öfter gegen den Willen des Fräuleins zu verstossen – und fühlte mich zunehmend wohl dabei. Denn von der Fülscher zu lernen, ist für die Entwicklung am Herd offenbar so wichtig, wie sich von ihr zu emanzipieren. Man befreit sich und lernt, auch ein eingefallenes Soufflé mit Stolz und Freude zu betrachten. Dann und wann aber kommt es auch heute noch vor, dass ich in den Wahrheiten der Vergangenheit Rat suche, auch in kulinarischer Hinsicht – und dann schlage ich manchmal heimlich «die Fülscher» auf, um nachzulesen, was genau stand unter der Nr. 1670. Und klar, hernach wasche ich mir sofort die Hände.

Diese Rezension erschien erstmals am 31. Dezember 2013 im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 41.

Susanne Vögeli und Max Rigendinger (Hrsg.): Das Fülscher-Kochbuch. Faksimile der Ausgabe von 1966 mit Kommentaren. Verlag Hier + Jetzt, Baden 2013.

First Publication: 11-1-2014

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