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Der markante Felspfeiler am östlichen Eingang zur Baie d'Artemise heisst «Hexenfinger».

Baie d'Artemise

Bezirk: Est (Vorwahl: 03) – Karte
Einwohner: 1 (Mai 2011)
Kurzbeschreibung: Seit Jahren sucht Jean-Pierre Wiederer in dieser Bucht nach dem Schatz der Piratin Artemise. Bis heute fand er eine alte Münze – und tonnenweise Langusten.
Spezialitäten: «Le Cochon d'Artemise» (Ragout vom Schwein mit Bohnen)

Zu Besuch bei Jean-Pierre Wiederer, der seit vielen Jahren schon den Schatz der Piratin Artemise «Peau de Fer» Bandeon de l'Ensus sucht.

Die Anweisungen sind klar: «Bei dem Felsen, wo die Hexe ihren krummen Finger gegen Himmel streckt, lenke dein Schiff zum Ufer hin. In der letzten Einbuchtung, die sich zur rechten Hand vor der Mündung des Flusses findet, siehst du auf der Höhe des Wassers mein Zeichen. In dem Felsen darunter grabe bis du findest, was ich tausend Hunden abgejagt». Diese Zeilen sind Teil eines längeren Briefes, der auf den 17. Januar 1711 datiert und vermutlich an Bord der «Écureuil» geschrieben wurde. Als Verfasserin der Botschaft zeichnet Artemise «Peau de Fer» Bandeon de l'Ensus – eine der wenigen Frauen der Geschichte, die sich mit Leib, Seele und Erfolg dem Beruf der Piraterie hingegeben haben.

Eine ausgezeichnete Seefrau

Artemise stammte aus einer alten französischen Familie – wie sie zur Piraterie gekommen war, wissen wir nicht. Sie war, so heisst es, eine ausgezeichnete Seefrau und eine zielsichere Bogenschützin, die noch über eine Distanz von mehr als hundert Metern einen fliehenden Hasen oder sogar einen fliegenden Fisch erlegen konnte. Ausserdem war sie ungewöhnlich kräftig und soll mehrheitlich Männer im Ringkampf geschlagen haben. Ja es hiess gar, sie sei so muskulös, dass Pfeile an ihrer Haut wie Regentropfen abprallten – daher der Übername «Peau de Fer». Ihre Mannschaft bestand aus kampferprobten Frauen, die ihr «wie Schwestern» (Père Cosquer) zugetan waren – ausserdem hatte sie eine Reihe von Sklaven aus Sansibar an Bord.

Es haben sich keine Bilder von Artemise «Peau de Fer» Bandeon de l'Ensus erhalten. Grund genug für Jean-Pierre Wiederer, sich die Piratin immer wieder als kampflustige Schönheit vorzustellen. Die Wände seiner Hütte sind mit Zeichnungen vollgehängt, auf denen uns die muskulöse Hüterin seines Schatzes mit Pfeil und Bogen entgegentritt.

Mit ihrer kleinen Fregatte, der «Écureuil», war Artemise hauptsächlich vor der Küste Westafrikas unterwegs. Dort überfiel sie Schiffe, die wertvolle Güter aus Indien nach Europa brachten – unter anderem soll sie einmal eine grössere Menge Diamanten aus dem berühmten Golkonda erbeutet haben. Schiffe mit derart kostbarer Fracht waren meist gut bewaffnet. Die «Écureuil» hingegen war ganz auf Schnelligkeit ausgelegt und hatte deshalb nur relativ wenige Kanonen an Bord – in einem offenen Seegefecht war sie den meisten Gegnern deutlich unterlegen.

Die Erfindung des «coup de vache»

«Peau de Fer» aber griff nach einer ganz eigenen Technik an. Hatte sie sich einmal ein Schiff ausgesucht, das sie überfallen wollte, verfolgte sie es zunächst über mehrere Tage hinweg aus einiger Distanz. Sie näherte sich erst, wenn die Gelegenheit günstig war: in einer besonders dunklen Nacht. Ohne Licht und mit grauen Segeln glitt sie dann rasch an ihr Ziel heran – kamen die Wachen an Deck in Sichtdistanz, so sandte sie einige ihrer tödlichen Pfeile. Dann manövrierte sie ihr Schiff neben das Ziel, reffte die Segel, feuerte aus allen Rohren in den Rumpf des Gegners, enterte durch das so entstandene Loch, drang mit einer bis zu den Zähnen bewaffneten Stosstruppe zum Heck des Schiffes vor, brachte nach Möglichkeit sämtliche Offiziere um, griff sich die Truhen mit den Diamanten oder anderen Präziosen, legte ein Feuer, zog sich in Windeseile wieder auf ihr Boot zurück, setzte Segel und verschwand innert Minuten in den Tiefen der Nacht. Während die Angegriffenen noch damit beschäftigt waren, die Feuer zu löschen und mit den durch das Loch im Rumpf schwappenden Wassern zu kämpfen, brachte Artemise die «Écureuil» in sichere Distanz. Den Geschädigten blieb da meist nichts anderes übrig, als der Piratin ihre grimmige Verachtung hinterher zu schleudern: «vaches de mer» schimpfte man die Frauenbande der Artemise, als «coup de vache» ging ihre Angriffstrategie in die Geschichte ein – ein Begriff, mit dem man im französischen Sprachraum bis heute ganz besonders hinterhältige Streiche bezeichnet.

Die «Écureuil» war ganz auf Schnelligkeit und Wendigkeit angelegt – entsprechend war auch die Takelage so beschaffen, dass die wichtigsten Segel innert kürzester Zeit gesetzt oder gerefft werden konnten.

Nach einem solchen Coup zogen sich Artemise und ihre Frauen jeweils für einige Zeit in die Karibik zurück. Ihr erstes Nest lag an der Südküste von Martinique, dann aber richteten sie sich an der Nordküste von Santa Lemusa ein – in einer durch eine Landzunge vor den Brechern des atlantischen Ozeans geschützten Lagune, die zu Ehren der Piratin Baie d'Artemise heisst (früher trug die Bucht den etwas seltsamen Namen Le Lit de Peau de Fer – vielleicht wegen einer markanten Felsplatte, die ein wenig wie ein grosses Bett über dem blau und grün leuchtenden Wasser liegt). – Nach Père Cosquer machten die Einheimischen noch in den 1730er Jahren einen grossen Bogen um diese Bucht – wenngleich es in ihr ganz besonders viele Langusten gegeben haben soll. Dem rüstigen Dominikaner-Pater und seinem «Abrégé logique de l'histoire et de la nature de S. Lemousa» verdanken wir übrigens die meisten Informationen zu Leben und Werk der Artemise «Peau de Fer» Bandeon de l'Ensus. Daniel Defoe erwähnt in seiner «General History of the Pyrates» von 1724 zwar zwei andere berühmte Piratinnen jener Zeit (Anne Providence und Mary Read), über Artemise «Peau de Fer» aber verliert er kein Wort – was wohl vor allem beweist, dass selbst in der Piraterie zwischen der englischen und der französischen Welt ein tiefer Graben klafft.

Ein Schatz für Narren und Romantiker

Als Artemise 1711 die eingangs zitierten Zeilen schrieb, war sie etwa 35 Jahre alt. Adressatin dieses wie ein Testament angelegten Briefes war ihre Nichte Catherine in Nantes. Das Schreiben hat die Insel jedoch nie verlassen: Am 20. Januar 1711 nämlich wurde Artemise, ironischerweise ebenfalls im Verzug eines nächtlichen Überraschungsangriffs, von der Polizei von Santa Lemusa verhaftet und in den Kerker von Port-Louis gesteckt. Dort blieb sie an die zehn Jahre lang – bis sie eines Tages offenbar fliehen konnte. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Der Brief gelangte auf einigen Umwegen in die Nationalarchive von Santa Lemusa, wo er heute noch aufbewahrt wird.

Jean-Pierre Wiederer auf seiner «Ausgrabung» in der Bucht der Piratin.

Wie aber steht es um den Piratenschatz – um das, was Artemise in ihren eigenen Worten «tausend Hunden abgejagt»? Nach Ansicht von Michel Babyé, dem Leiter der Bibliothèque et Archives Nationales, könnte nur ein «Narr oder aber ein hoffnungsloser Romantiker» auf die Idee kommen, heute noch nach dem Schatz der Artemise zu suchen. «Wenn es je einen solchen Schatz gegeben hat, dann ist er längst geborgen», ist Babyé überzeugt. Der von Artemise in dem Brief beschriebene Ort sei nämlich seit mehreren hundert Jahren schon als ehemaliges Piratennest bekannt – und auch wenn er schwer zugänglich sei, hätten da in der Vergangenheit sicher schon verschiedene Schatzsucher ihr Glück gesucht und, wer weiss, vielleicht ja auch gefunden.

Eine Frage von Stunden, höchstens von Tagen

Jean-Pierre Wiederer allerdings stört es kaum, dass ihn manche für einen Narren halten: Er glaubt an den Schatz der Artemise. Und hat er ihn erst gefunden, dann wird das den Spöttern eine Lehre sein. Die Beschreibung der Piratin sei ja unmissverständlich - nun gelte es bloss noch, tief genug zu graben. Wiederer, ein stämmiger Blondschopf mit leichtem Bauchansatz, ist seit bald zwei Jahren mit Hacke und Spaten dran und hat, unmittelbar über der Wasserkante, schon ein ganz ordentliches Loch ausgehoben. Ein Zeichen der Artemise hat er zwar nicht gefunden, das hätten Wind und Regen wohl längst schon weggewischt. Trotzdem ist er überzeugt, dass er an der richtigen Stelle gräbt - und eigentlich kann es nur noch eine Frage von Stunden, höchstens von Tagen sein, bis ihm der entscheide Schlag gelingt und sich die Höhle der Piratin vor ihm öffnet.

In den letzten zwei Jahren hat Jean-Pierre Wiederer einige Kubikmeter Erde und Felsen am Rand der Baie d'Artemise abgetragen. Obwohl er das «Zeichen» der Piratin (noch) nicht gefunden hat, ist er überzeugt, dass er an der richtigen Stelle gräbt.

Bis vor zwei Jahren hatte Wiederer als städtischer Buschauffeur in Nantes gearbeitet. Eine Urlaubsreise hatte ihn mehr oder weniger zufällig nach Santa Lemusa geführt. Ebenso zufällig war er an einem regnerischen Morgen in das Musée historique von Port-Louis gelangt, wo es zu diesem Zeitpunkt gerade eine kleine Ausstellung über Piraterie in der Karibik zu sehen gab. Und in dieser Schau schliesslich stiess er auf den Brief, den Artemise 1711 an ihre Nichte in Nantes geschrieben hatte. «Das war ein Wink des Schicksals», ist Wiederer heute noch überzeugt: «Das Schreiben der Artemise ist zwar nie nach Nantes gelangt – aber Nantes ist zu ihm gekommen, und zwar in Form meiner Person». Eine Beziehungskrise, in die Wiederer wenige Monate nach seinem Urlaub geriet, gab schliesslich den Ausschlag: Der Chauffeur quittierte seinen Job, raffte seinen ganzen Ersparnisse zusammen und fuhr mit Sack und Pack nach Santa Lemusa.

Schatzsucher und Farmer

Die Gemeinde von Maizyé, auf deren Territorium die Baie d'Artemise liegt, hatte nichts gegen die Grabungs-Pläne des verrückten Franzosen einzuwenden – zumal dieser den Behörden zehn Prozent des gehobenen Schatzes versprach. Zwar glaubte keiner, dass Wiederer tatsächlich etwas finden werde – aber schliesslich konnte man ja nie wissen. Auch störte es niemanden, dass der Franzose in der Bucht eine kleine Hütte errichtete. Es ist der Alptraum jeden Schatzsuchers, dass ihm ein anderer auf seinem «Territorium» zuvorkommen könnte – und da ist es natürlich am sichersten, wenn man auch gleich vor Ort seine Wohnstatt einrichten kann. In den zwei Jahren allerdings ist aus der Hütte eine kleine Farm mit Solarstromanlage, Räucherei, Hühnerstall, Schweinegehege und Gemüsegarten geworden. Manches sieht noch etwas windschief aus – doch es scheint zu funktionieren. «In den letzten Jahren habe ich viel gelernt, nicht nur über Schatzgräberei, sondern auch über Landwirtschaft», lacht Wiederer. Und als wollte er seine neu gewonnen Fertigkeiten demonstrieren, greift er nach einem kleinen Ferkel, versucht es auf den Arm zu nehmen. Das nervöse Schweinetier aber windet sich, fällt, steht auf und rast durch den Schlamm davon. Wiederer kratzt sich am Kinn und schiebt trotzig die Unterlippe vor: «Irgendwann landet es ja trotzdem in meinem Topf».

Mit den Jahren ist aus Wiederers Hütte eine richtige kleine Farm geworden – manches, sieht allerdings noch ein wenig windschief aus.

Als Schatzgräber ist man am besten auch Selbstversorger – so muss man nämlich sein Territorium kaum mehr verlassen. Auch Wiederer hat hier alles, was es zum Leben braucht: Gemüse, Gewürze, Bohnen, Früchte, Fleisch und natürlich Meerestiere aller Art. «Wenn meine ehemaligen Kollegen in Nantes wüssten, wie viel Hummer und Languste ich hier esse…». – Wiederers Verwandlung zum Farmer ist allerdings noch nicht gänzlich vollzogen. Der Schatzsucher musste nämlich feststellen, dass er es einfach nicht übers Herz brachte, seine Schweine oder Hühner zu schlachten. «Erst dachte ich daran, Vegetarier zu werden, dann aber lernte ich diesen Metzger in Maizyé kennen. Der kommt jetzt ein Mal pro Monat, wählt sich die reifsten Tiere aus und tut seine Arbeit. Ich fahre derweilen mit meinem Boot in die Bucht hinaus, zum Angeln – wenn ich zurückkomme, dann liegt das Fleisch bereits sauber portioniert in meiner Tiefkühltruhe.»

«Bienvenu à bord»

Von einem Schatzsucher könnte man erwarten, dass er grimmig ist, ein wenig frustriert vielleicht auch, menschenscheu oder gar misanthropisch. Wiederer aber ist nichts von alledem. Wenn Neugierige auf seinem Territorium erscheinen, dann empfängt er sie nicht mit der Schrotflinte, sondern mit einem freundlichen «Bienvenu à bord» – darin ist er vielleicht bis heute ein wenig der Buschauffeur aus Nantes geblieben. Bereitwillig führt Wiederer seine Gäste durch das «Reich der Piratin», wie er es nennt, zeigt ihnen seine Grabungen, seinen Garten, seinen Stall. Und wenn es Abend wird, dann passiert es nicht selten, dass man auch noch eine Einladung zum Nachtessen erhält. Die sollte man dann auf jeden Fall annehmen. Denn auch wenn Wiederer vielleicht nicht der erfolgreichste Schatzsucher aller Zeiten ist, ein guter Koch ist er zweifellos. Wobei einem die indische Note seiner Gerichte zunächst überraschen mag – bis man dann beim dritten oder vierten Bier erfährt, dass seine letzte Lebenspartnerin aus einer indisch-französischen Familie stammte: Camellia. Wiederer spricht viel von ihr, mit jedem Glas ein wenig mehr – und man merkt bald einmal, dass er sich insgeheim wünscht, sie stünde eines Tages plötzlich doch noch vor der Tür seiner Hütte.

Kräftige Schönheit mit Pfeil und Bogen

Dabei sind die Wände seiner Behausung einer ganz anderen Frau gewidmet: Fast lückenlos hängen hier eher unbeholfene Zeichnungen einer kräftigen Schönheit mit Pfeil und Bogen – manche aquarelliert oder durch Schnipsel aus Zeitschriften ergänzt, manche auf Zeitungspapier oder Verpackugskartons ausgeführt. Da hätten wir sie wieder: Artemise «Peau de Fer» Bandeon de l'Ensus. «Indem ich sie zeichne, versuche ich, mich in sie hineinzuversetzen», erklärt Wiederer: «je besser ich verstehe, wie sie dachte und handelte, wer sie war, desto eher finde ich ihren Schatz.»

Diese alte Münze hat Wiederer am ersten Tag seiner Grabung im Sand der Lagune gefunden. Ein Zeichen der Piratin?

Ach ja, der Schatz – den hatten wir fast schon vergessen angesichts des würzig-scharfen Bohnen-Schweinefleisch-Currys, das uns Wiederer mit einem Schmunzeln als «Le Cochon d'Artemise» (das «Schwein der Artemis») servierte. Hat er denn wenigstens eine Spur dieser Reichtümer gefunden? Der Schatzsucher legt die Gabel nieder und holt eine alte Blechdose aus einem Schaft. Darin liegt, auf Watte gebettet, eine kleine, rostig-schwarze und stark abgenutzte Münze - auf der einen Seite könnte ein Tier abgebildet sein, auf der anderen erkennen wir eine «8». Wiederer hat sie am ersten Tag seiner Grabung im Sand der Bucht gefunden. «Viel ist das nicht, ich weiss», räumt der Schatzucher ein: «Aber vielleicht ist es ja wieder ein Zeichen von ihr. Noch ein wenig Schwein?».

In der Baie d'Artemise leben zahllose Langusten – ein kleiner Trost für den bisher ziemlich erfolglosen Schatzsucher Jean-Pierre Wiederer.

Siehe auch

First Publication: 2005

Modifications: 13-2-2009, 30-9-2011, 2-7-2013