Hier oben zieht der Winter seine Finger nur ganz langsam aus der Welt zurück. Im Tal habe ich schon die ersten Kirschen an den Bäumen hängen sehen. Eigentlich sind das verkehrte Verhältnisse, kommt der Frühling doch für mein Gefühl von oben her auf uns herab, wie das Wetter.
Ich komme nur schlecht voran, immer wieder muss ich Schneefelder überqueren, sinke plötzlich knietief ein. Zwischendurch kämpfe ich mich durch piksende Wachholderbüsche an kleinen Seen vorbei, in denen eigentümliche Organe aus Eis in einem rostrot leuchtenden Wasser schwimmen. Es gibt hier noch keine Wege um diese Zeit des Jahres, also gehe ich der Nase nach, begleitet vom Piepsen kleiner Vögel, das einen eigentümlichen Optimismus verströmt, als sei die Ankunft des Sommers nur eine Frage von wenigen Flügelschlägen. Die Schatten der Wolken bewegen sich wie träge Tiere über die graue Haut des Gletschers. Aus dem Tal das laute Rauschen des Wasser, das unter dem Eis hindurch fliesst, dann und wann poltern Steine über Felsen.
Ich habe die Landschaft ganz für mich allein. Das Gelächter der fröhlichen Wanderer, die hier im Sommer in Scharen unterwegs sind, scheint so fern wie das Rufen der Skifahrer, die im Winter zu Tausenden über die Pisten rasen. «Zwischensaison», nennen die Einheimischen diesen Zustand, haben mit eiliger Schrift «Betriebsferien» auf die Schilder an ihren Restaurants und Sportgeschäften geschrieben – und sind nach Thailand oder Brasilien verreist.
Wo der Schnee ganz weggeschmolzen ist, kommen struppige Büschel fahlgelben Grases aus dem letzten Sommer zum Vorschein – da und dort streckt sich keck ein einzelner grüner Halm durch dieses Gerippe. Und überall spriessen kleine Krokusse aus dem Boden: weisse, manchmal violett angehauchte Glöcken, in deren Mitte safrangelbe Staubfaden leuchten. Es müssen viele Millionen sein. Meine Füsse trampeln sie zu Tausenden nieder. Und auf ein Mal bin ich unsicher, ob ich wirklich hier sein soll.
First Publication: 3-6-2014
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