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Ein besoffener Vogel

Saint Petersburg (Russia) Fontanka
Panteleymonovskiy Most
Freitag, 27. Juni 2014

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Vom aufgeklärten Menschen wird viel gefordert – zum Beispiel auch, dass er ganz genau hinsehen soll. Unvoreingenommen und offen soll sein Blick sein – nur so wird ihn sein Auge zu Erkenntnis führen.

Wer im Zentrum von Sankt Petersburg über die Panteleymonovskiy-Brücke geht, kann auf einer Kaimauer an der Kreuzung der Flüsse Fontanka und Moika ein eigentümliches Schauspiel beobachten: Da lehnen sich Männer und Frauen, Kinder und Alte weit über die Brüstung hinaus, um einem schwarzen Vogel Brotstücke hinzuwerfen – das Tierchen ist aus Bronze gefertigt und steht auf einer Steinplatte, die etwa auf halber Höhe zwischen Wasser und Strasse aus dem Gemäuer ragt. Tschischik-Pyschik heisst das Monument, das annähernd in Lebensgrösse einen Zeisig (Tschischik) darstellt. Laut einem Bericht des Stadtjournals «Petersburg Aktuell» (3. März 2006) wurde der Vogel 1994 auf Initiative des Architekten Wjatscheslaw Buchajew aufgestellt und erinnert an ein in der Stadt seit Mitte des 19. Jahrhunderts populäres Lied: «Tschischik-Pischik, wo warst Du? – Ich habe Wodka getrunken – Am Ufer der Fontanka – Erst ein Gläschen – Dann ein zweites – Und jetzt brummt mir der Schädel!» Reiseführer verbreiten gewöhnlich, dass hier tatsächlich ein Vogel beim Wodka-Saufen beobachtet worden sei. Andere Quellen aber erzählen, dass es früher an der Adresse Fontanka 6 ein Institut für Jurisprudenz gegeben habe, dessen Studenten wegen ihrer grün-gelben Uniformen auch Zeisige genannt wurden. Bei dem Vers würde es sich demnach um ein Studentenlied handeln. Die Popularität des kleinen Monuments hat zweifellos damit zu tun, dass es weder politisch noch historisch konnotiert ist, sondern im Grunde schlicht die menschliche Schwäche für alkoholische Getränke auf einen Podest erhebt – wobei dieser Podest vielleicht nicht ganz zufällig unter dem Niveau der Strasse liegt.

Aus der Nähe verliert die Szene etwas von ihrer Magie. Man erkennt nämlich, dass die Leute den Vogel gar nicht mit Brotstücken füttern, sondern bräunlich-gelbe Rubel-Münzen so zu werfen versuchen, dass sie auf dem Podest zu liegen kommen. Gelingt der Wurf, soll ein Wunsch in Erfüllung gehen – ein banales Ritual, wie es an zahllosen Orten in unendlichen Variationen praktiziert wird. Manchmal sind die Dinge einfach schöner, wenn man nicht so genau hinsieht.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Rassolnik (Suppe aus Salzgurken und Lake, Wurzelgemüse, Buchweizen, Kalbsniere und Dill)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

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