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Aus allen Poren

Vienna (Austria) Rothenturmstrasse
Nähe Stephansdom
Samstag, 22. November 2014

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Wien ist zweifellos die Weltkapitale des Quellens. Schauen wir uns nur schon die Mehlspeisen an, deren hohes Lied hier jede gute Köchin im Traum zu schnalzen versteht – was hier nicht alles aufgeht und gross wird, die Weizenmuskeln anschwellen lässt, in Servietten oder aus Backformen quillt. Oder hören wir den Tönen zu, die der Autochthone hier zu produzieren weiss: Das Wienerische wird ja nicht im engeren Sinne gesprochen, es quillt vielmehr aus den Menschen heraus und hüllt ihre Körper in einen knarrenden, quietschenden, stöhnenden Pullover aus abenteuerlich verstrickten Substantiven, Verben, Adjektiven und Lauten, die keiner dem Nicht-Wiener bekannten Wortgruppe zuzuordnen sind.

Wen erstaunt es da, dass man in einer solchen Stadt auch das Weihnachtsgeschäft ausserordentlich ernst nimmt. Klar, Strassburg hat seinen gotischen Dom, gilt als die Wiege des Christbaums und nennt sich also gerne «la capitale européenne de noël». Wien aber hat seinen Verdauungsapparat, der alles Weihnächtliche in sich aufsaugt und es sich dann in wienächtlicher Form grandios aus allen Poren quellen lässt. Es gibt in den inneren Bezirken ausser dem orientalisch besetzten Naschmarkt wohl keinen Platz und kein Plätzchen, auf dem nicht Bude an Bude sich reihte. Sogar der Maria-Theresien-Garten hat einen Christkindl-Markt abbekommen – und überall werden Busladungen voller Menschen herangekarrt, die sich mit leuchtenden Augen in fetten Trauben durch die nach Seife und Weihrauch duftenden Gassen schubsen. Die Luftfeuchtigkeit der Stadt besteht in der Adventszeit zu 60 Prozent aus Glühwein-Dunst – und die Lämmer des Landes existieren jetzt nur noch in Gestalt wärmender Winterpantoffeln. «Magic Vienna», lautet der Slogan der Tourismusbranche, denn auch rund um die Hofburg ist die Verkehrssprache heute meist Englisch – wobei es sich der moderne Wiener natürlich nicht nehmen lässt, selbst ein ausländisches Wort wie «Magic» genüsslich aus sich herausquellen zu lassen.

Weil besser quillt, was eine rundliche Form hat, gönnt sich Wien um diese Jahreszeit natürlich auch so manche Kugel. Keine Geschäftsauslage, die nicht mit ein paar Tannzweigen und gläsernen Sphären saisonal aufgepeppt wäre, keine Kaufhausfassade, über die nicht ein Beamer die Glasbälle tanzen liesse – und im Stephansdom tritt 240 Mal pro Tag ein Gospelchor aus Döbling oder Liesing auf, der die Kugeln in Vokalform durch den Kirchenraum schweben lässt. Die mit Abstand mächtigsten Kugeln aber hängen zweifellos über der Rotenturmstrasse in der Inneren Stadt: Bälle, gross wie PKW's, aus einem filzartig wirkenden Material. Tagsüber glimmen sie in einem dunklen Rot vor sich – in der Nacht aber verwandeln sie sich mangels Beleuchtung in schwarze Massen, die dunkel und fast ein wenig bedrohlich über den Menschen baumeln. Je länger man sie sich ansieht, desto mehr wirken sie wie schwarze Löcher im lichthungrigen Treiben dieser Stadt – und plötzlich wird klar, dass dies die Stelle sein muss, wo Wien aus sich selbst herausquellen kann.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: 香辣兔 (Kaninchenfilet, knusprig gebraten, mit Chili und Sichuanpfeffer)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 6-4-2014

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