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Port-Louis (France) Citadelle
Unter der Zugangsbrücke
Donnerstag, 1. Januar 2015

Ort auf Weltkarte anzeigen

Ich bin in einer Welt hinein geboren worden, die unendlich reich ist, bunt und voller Überraschungen – eine Welt, die tausend verschiedene Blicke verdient, unter denen sie sich in all ihren wundersamen Facetten zeigen kann. Allein ich neige dazu, meine Umgebung immer wieder aus derselben Perspektive heraus anzuschauen, ganz als sei mein Auge fixiert, ganz als könne ich nichts anderes erwarten als eine Art Bestätigung, dass die Dinge so sind wie sie sind. Doch sie sind nicht so. Oder vielmehr: sie sind auch anders.

Es ist mir lange sehr schwer gefallen, mich von diesen Vorstellungen der Wirklichkeit zu lösen – wenngleich ich eigentlich immer wusste, dass sie in einer nicht existierenden Realität festgenagelt sind. Und auch heute gleite ich manchmal unversehens in diesen Zustand teilweiser Agonie ab. Vielleicht hat das mit Erziehung zu tun – mit der Tatsache, dass man mit fremden Bildern und Auffassungen aufwächst, die man lange für die Realität hält, manche ihr ganzes Leben lang. In meinem Fall waren es auch kleinliche Beschäftigungen, die mich über weite Strecken bei der Stange hielten, für die ich das Leben nahm: Fragen nach meinem Tauglichkeit oder meiner Bedeutung, nach meiner Schönheit und Heilheit, Fragen nach dem Richtigen und dem Falschen. Für einen kurzen Moment haben mich sogar Fragen nach dem Sinn des Lebens beschäftigt, nach der Möglichkeit eines Gottes, eines Jenseits – was mich zum Glück bald davon abbrachte war mein Instinkt, der mich immer zufällig davor schützte, den plumpsten Antworten zu folgen. Trotzdem kam ich mir vor wie ein Wurm, der sich mit den immer gleichen Bewegungen durch das Erdreich dreht, immer in derselben Richtung – als gäbe es nur einen einzigen Weg, ja als gäbe es gar so etwas wie ein Ziel.

Dabei habe ich jederzeit und immer die Möglichkeit, alles anders anzuschauen und in der Konsequenz auch anders zu handeln, mich dabei anders zu fühlen, andere Reaktionen zu provozieren. Jede Sekunde birgt die Chance eines gewaltigen Schöpfungsaktes, in dem sich mein Leben ein bisschen neu erfindet und ich etwas anders darin stehe.

Manchmal genügen kleine Verschiebungen im Tempo – und schon nehmen ich die Umwelt anders wahr, ist alles wie neu, als hätten ich es noch nie so gesehen. Manchmal reicht es, dass ich beim Gehen meine Füssen anders aufsetzen – und schon gleitet die Welt völlig verändert an mir vorbei. Manchmal allerdings braucht es mehr. Das Kochen etwa ist ein Weg, sich über den Widerstand von Zutaten, die exotischen Anweisungen von Rezepten, die Tätigkeit der Hände oder das Erleben von Nase und Gaumen plötzlich sehr fremd vorzukommen. Eines der mächtigsten Instrumente aber, mit denen ich die Welt und mein Leben zu zwei Diamanten machen kann, deren zahlreiche Facetten sich in unendlichen Varianten spiegeln, brechen, blenden, antworten, ist das Reisen – ganz unwillkürlich führt es dazu, dass Vieles in Frage gestellt wird und folglich neu ausgehandelt werden will. Treffender noch als das Wort Reisen, das sich zu oft als billige Metapher anbietet, scheint mir das Wort Tour. Tour bezeichnet einfach einen Rundweg, mitunter einen Umweg, ein Umfassen, das Einkreisen einer Sache.

In den letzten Jahren haben mich einige Touren, per Flugzeug meist, an die unterschiedlichsten Ecken und Enden dieses Planeten geführt. Mit der Zeit aber habe ich herausgefunden, dass sich das Erlebnis-Prinzip des Tourens auch auf kleinste Bewegungen übertragen lässt. Der Gang zu Arbeit, eine Darmspiegelung, das Warten auf dem Postamt, das Schlucken einer Schmerztablette – im Grunde kann man fast alles auch als eine Tour verstehen und sich davon berühren, verändern lassen. Vielleicht kommt es manchmal auch nur darauf an, sich entsprechend vorzubereiten und sich im Moment selbst zu konzentrieren.

Als ich dies verstanden hatte, beschloss ich, dass ich mich künftig nach Möglichkeit als Tourist durchs Leben bewegen wollte. Die Abschnitte der Bordkarten, die sich auf meinem Schreibtisch angesammelt hatten, wohl um so etwas wie meine Weltläufigkeit zu symbolisieren, sie hatten plötzlich keine Bedeutung mehr. Und also fiel es mir leicht, mich mit einem letzten Blick auf all die hehren Ziele von ihnen zu verabschieden – und welcher Ort war da wohl geeigneter als die bretonische Zitadelle Port-Louis, die ihren Namen mit der Hauptstadt der Insel teilt, auf der ich einst in die Welt hinein geboren wurde.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Far breton (Kuchen aus Eiern Milch, Zucker, Mehl und salziger Butter, mit Dörrpflaumen)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 14-1-2015

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