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Sonntag, 5. Juli 2015

Zu meinen Füssen tanzt ein kaum zentimetergrosse Ameise nervös auf dem toten Körper einer abgestürzten Flugschrecke herum – offensichtlich gierig auf das Fleisch und ebenso offensichtlich nicht in der Lage, das sicher hundert Mal schwerere Tier zu bewegen oder seinen Panzer zu knacken. Dann und wann zucken die Flügel der Schrecke als träume sie sterbend vom Fliegen, doch das durchsichtige Gewebe scheint zerbrochen, die Membranen miteinander verklebt. Für mein Auge hat die Ameise dieselbe Grösse wie die türkisblau schimmernde Libelle mit den schwarzen Flügeln, die zwei Armlängen vor mir um einen Thymianzweig tanzt – und ihr zarter Körper wiederum hat das Ausmass der muslimischen Gebetshalle, die sich vielleicht tausend Meter entfernt wie ein Nabel aus der Mitte eines sanften Tales stülpt.

Die weiten, fast immer menschenleeren Landschaften im Osten Kasachstans lassen mich täglich erleben, wie mein Blick Erzählungen formuliert – nicht nur, indem er Gewichtungen vornimmt, sondern auch, indem er Perspektiven erfindet, Blickachsen anlegt, Grössenverhältnisse verschiebt, Bewegungen dramatisiert. Den Reiter neben der kleinen Architektur kann ich von blossem Auge kaum erkennen – und doch ist er eindeutig der Meister der hin und her fliessenden Grüntöne. Und die Pferde, Rinder oder Schafe auf dem Abhang, der zur Horizontlinie führt, sie sind nicht mehr als Ahnungen, Behauptungen meines einordnen Verstandes.

Dass ich diese Landschaft nicht begreifen kann, ist als Feststellung banal. Je nachdem, was man unter Erkennen versteht, sogar falsch. Weit mehr beschäftigt mich die Frage, ob sich ein stimmiges Verhältnis zwischen meiner Sprache und dieser Landschaft herstellen lässt. Die Erzählung scheint mir die einzige Möglichkeit, überhaupt eine Relation zu versuchen – und man kann sie ja auch als eine Art Bewegung des Geistes in dieser Topographie verstehen. Und doch: kaum ist die Erzählung da, ist die Landschaft auf eine seltsame Weise weg. Als hätte die Sprache sie ausgesaugt. Vielleicht flackert da auf, dass ich – trotz Jahrtausenden der Kultivierung, als deren Formulierung ich mich ansehe – im Grunde immer noch ein tierisches Verhältnis zur Welt habe. Das heisst, ich sehe eigentlich keinen weiteren Zusammenhang, sehe die Erde nicht als eine mir übergeordnete Grösse an, sondern primär als eine Umgebung, die meinen Bedürfnissen dient, die ich fresse – und sei es auch nur mit den Mitteln meiner Sprache.

Die Ameise hat Gesellschaft bekommen. Ein Dutzend Kollegen krabbeln nun mit über den Körper der Flugschrecke, der sich unter dem Zerren und Reissen bewegt wie im Todeskampf. Dann bricht endlich einer der Schenkel ab – geschickt trägt ihn meine Ameise durchs Gras davon, wird schnell kleiner und verschwindet schliesslich hinter einem Steinchen.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Beşbarmak (Siedfleisch vom Pferd mit Teigwaren, Brühe und Zwiebeln)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 28-7-2015

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