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Schauplatz der Legende von den Covivs ist die Fôret des Orchidées.

Lé Covivs di Majorin

Die Tafelfreunde vom Majorin

Der Schräge Vogel hatte nicht viele Freunde. Ja seit der Hässliche Vogel und der Komische Vogel gestorben waren, hatte er eigentlich gar keine Kumpels mehr. Tatsächlich war der Schräge Vogel so seltsam, dass es alle normalen Vögel vorzogen, nichts mit ihm zu tun zu haben. Wenn der Schräge Vogel seinen Schnabel öffnete, dann kamen auch fast immer Monstrositäten heraus: Meist sagte er ja Dinge, die sowieso niemand verstehen konnte - aber wenn man dann doch einmal etwas verstand, dann war es meist irgendwie beleidigend oder zumindest ziemlich deplaciert. Das Nest des Schrägen Vogels lag auf einem kugelrunden Felsen am Fuss des Majorin, mitten im berühmten Orchideenwald. Diesen Felsen konnte man von allen Seiten und schon aus grosser Distanz sehen – so dass die Einsamkeit des Vogels immer für alle Bewohner der Gegend ganz offensichtlich war.

Auch für die Bärtige Schildkröte, die etwas weiter westlich in einer Höhle wohnte. Die Bärtige Schildkröte hatte ein gutes Herz und also entwich ihr immer ein kleiner Seufzer, wenn sie den Schrägen Vogel da so einsam auf seinem Felsen sitzen sah. Die Schildkröte war schon ziemlich alt, weise und aus philosophischen Gründen etwas schwer von Begriff: Sie machte sich nichts aus den seltsamen Dingen, die der Schräge Vogel so von sich gab. Also beschloss sie eines Tages, etwas gegen die Misere ihres gefiederten Nachbars zu unternehmen. Und sie schickte dem Schrägen Vogel einen Brief mit der Einladung zu einem Nachtessen in ihrer Höhle. Als der Vogel den Brief öffnete, fiel er vor Überraschung beinahe von seinem Felsen. Er hatte mit fast allem gerechnet: Mit einer Faktura oder einer Mahnung, mit einem Steuerbescheid oder einem Drohbrief – nicht jedoch mit einer Einladung. Der Schräge Vogel freute sich ganz ungemein, war es doch viele Jahre her, dass ihn jemand zu einem Essen eingeladen hatte. Vor lauter Begeisterung flog er drei Mal um den Majorin und vollführte dabei die tollkühnsten Kapriolen in der Luft.

Als der Abend nahte, da er bei der bärtigen Schildkröte zum Essen eingeladen war, bereitete er sich überaus sorgfältig vor. Er nahm ein Bad in der Rivière Vany, die nahe seinem Felsen durch den Dschungel floss, und schrubbte sämtliche Federn. Er lackierte seinen Schnabel, legte ein dezentes Parfum auf und hüllte sich in sein bestes Gewand. Auf die Sekunde pünktlich, klingelte er an der Türe der Bärtigen Schildkröte. Die öffnet und bat den Schrägen Vogel mit einer freundlichen Geste herein. Nach einem kleinen Cocktail setzte man sich zu Tisch. Da die Bärtige Schildkröte ja die Ernährungsgewohnheiten des Schrägen Vogels nicht kannte, hatte sie sicherheitshalber ein vegetarisches Menu vorbereitet – einen Salat aus schwarzen Bohnen mit ihrem Lieblingsessig und viel besten Olivenöls. «Greif zu», sagt sie zu dem Vogel «lass es die schmecken». Und da die Schildkröte auch selbst ziemlich hungrig war, begann sie sofort, Bohne um Bohne mit ihren breiten Kiefern zu zermalmen.

Auch der Schräge Vogel hatte einen mächtigen Appetit – und hackte voller Lust in die Schüssel mit dem Salat. Allein die Bohnen waren so ölig und schlüpfrig, dass er sie mit seinem schmalen Schnabel nicht recht zu fassen bekam. Kaum drückte er zu, spickten die Früchtchen in hohem Bogen davon. Die Schildkröte war ein kleiner Gourmand - ausserdem liebte sie Bohnensalat über alles. Deshalb mampfte sie selbstverloren vor sich hin und bemerkte die Not ihres Gastes nicht. «Nimm nur, iss», brabbelte sie zwischendurch mit vollem Mund und kaute sogleich geräuschvoll weiter. Der Vogel versuchte mit allen Tricks, wenigstens eine der glitschigen Bohnen in seinen Hals zu bekommen - vergeblich. Je länger er es versuchte, desto mehr verging ihm seine eben noch festlich-fröhliche Laune. «Sicher hat sie das absichtlich gemacht», dachte der Schräge Vogel und wie bittere Galle stieg Enttäuschung in ihm empor: «Wahrscheinlich hat sie mich überhaupt nur eingeladen, um mich zu demütigend». Der Schräge Vogel blickte in das zufrieden mampfende Gesicht der Bärtigen Schildkröte und wusste, dass er Recht hatte. In seinem Innern kochte er vor Wut, doch er liess sich nichts anmerken und wartete. Einige Zeit später war die Schildkröte endlich fertig mit ihrem Salat: Zufrieden und voll lehnte sie sich zurück und liess einen so kräftigen Furz fahren, dass ihr ganzer Panzer vibrierte. Mit einem letzten Rest an Contenance verabschiedete sich der Vogel und verschwand in der Nacht. Wieder flog er drei Mal um den Majorin – nun aber, um seine unendliche Rage in die schwarze Luft zu fauchen.

Einige Tage später erhielt die Bärtige Schildkröte einen Brief mit der Einladung zu einem Abendessen im Nest des Schrägen Vogels. «Offensichtlich hat ihm mein Essen gefallen», dachte sie und freute sich sehr. Als der Tag der Einladung gekommen war, polierte sie ihren Panzer und trottete zu dem Felsen des Schrägen Vogels. Schon von weitem sah sie den riesigen Haufen herrlich geräucherten Specks, den der Schräge Vogel in seinem Nest aufgetürmt hatte – und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. «Komm herauf und setz dich zu mir», rief ihr der Schräge Vogel zu, als sie vor dem Felsen angelangt war. Sie begann zu klettern - doch ab einem bestimmten Punkt war die Steigung zu gross und also rutschte sie mit Karacho wieder ganz zurück. «Beeil dich ein bisschen», rief der Vogel: «Der Speck wird sonst kalt». Die Schildkröte versuchte den Aufstieg erneut und rutschte mit ihren grossen Füssen doch unweigerlich wieder ab.

Der Schräge Vogel schüttelte den Kopf und tat als sähe er die Schwierigkeiten der Schildkröte nicht. «Ich fang vielleicht doch schon mit dem Essen an - du scheinst ja keinen rechten Hunger zu haben», sagte er und hackte seinen Schnabel tief in den Speck. Wieder und wieder versuchte die Bärtige Schildkröte, den Felsen zum Nest des Schrägen Vogels zu erklimmen - wieder und wieder rutschte sie ab. Irgendwann hatte der Vogel allen Speck gegessen und liess einen Rülpser fahren, der im Echo der Berge wie das Poltern eines mittleren Bergsturzes klang. «Ich verstehe nicht, warum du den wunderbaren Speck nicht hast probieren wollen - aber das ist wohl deine Sache», seufzte der Vogel und legte sich am Boden seines Nestes nieder – denn unterdessen war es Nacht geworden und Zeit zu schlafen. – Die Schildkröte stand immer noch am Fuss des Felsens, völlig erschöpft und mit schmerzenden Gliedern. Ihr Panzer war von den vielen Abstürzen jämmerlich zerkratzt. Das Schlimmste aber war, dass sie das Gefühl hatte, sie habe sich gegenüber dem freundlichen Vogel schlecht benommen, sie sei undankbar gewesen. Halb vor Schmerz, halb vor Scham, quoll ihr eine dicke, in allen Farben des Waldes schimmernde Schildkrötenträne aus dem Auge und fiel zu Boden.

Wenige Tage später kam an derselben Stelle am Fusse des Felsens der Tränensammler vorbei, für den es ja in den meisten Geschichten etwas zu tun gibt. Er fand die Träne der Bärtigen Schildkröte, hob sie auf und konnte - dank seiner speziellen Begabung – in ihr die ganze Geschichte lesen. Was er sah, stimmte ihn traurig - und da auch er ein grosses Herz hatte, lud er den Schrägen Vogel und die Bärtige Schildkröte gemeinsam in seine Hütte ein, auf deren Wänden sich Tausende von kleinen Fläschchen mit Tränen reihen - gerade so wie bei anderen Leuten die Bücher. Er kochte eine Suppe, die ganz bestimmt beide würden geniessen können, mit schwarzen Bohne und mit Speck – um eine Wärme zu begünstigen, in der sich die Flamme der Freundschaft leichter entfacht, tat er ausserdem einen kräftigen Schuss Rum hinein. Und so kam es, dass der Schräge Vogel und die Bärtige Schildkröte schliesslich doch noch Freunde wurden. Am Felsen des Vogels lehnt seither eine kleine Treppe – und die Schildkröte hat es sich angewöhnt, beim Essen dann und wann eine kurze Pause einzulegen.

Wer heute durch den Orchideenwald am Fusse des Majorin gehe, so heisst es auf Santa Lemusa, der könne durch das Dickicht hindurch dann und wann recht deutlich ein Schlürfen, Furzen und Rülpsen hören. Das seien dann höchstwahrscheinlich der Schräge Vogel, die Bärtige Schildkröte und der Tränensammler, die sich gemeinsam eine Suppe gönnen – mit Speck, mit Rum und natürlich mit schwarzen Bohnen (Suppe des Tränensammlers).

Siehe auch

First Publication: 11-2006

Modifications: 16-2-2009, 2-11-2011