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Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

Wenn im Norden der Nebel aufzieht, wird die Lage für Schiffe gefährlich.

«Angst, Schweiss, Wein und täglich hässliche Erbsen»

von Sandrine Mirchi

Fast wäre es aus gewesen. Jetzt reisst die Jacht zwar an der Ankerkette und Sturmböen fahren in die Takelage wie verzweifelte Geister auf der Suche nach ihren Körpern. Eine bewaldete Landzunge aber schützt uns vor der offenen See. Im gelben Ölzeug sitzt Skipper Philippe da, Wasser läuft ihm aus den Haaren – diesen blonden Locken, wie sie nur die Kinder reicher Eltern haben, die ihre Jugend mit einem Golfschläger in der Hand, einer Tauchflasche auf dem Rücken oder einem Cabrio unterm Arsch wie eine grosse Sports-Party feiern. Der magere Thierry wischt sich die Kotze von seiner Jacke und Michel sammelt die Glasscherben auf. Keiner sagt ein Wort.

«Prison des Sous»

Auf das Kajütendach prasselt der Regen und Brackwasser umgurgelt den Rumpf. Wir liegen in der Baie de Bouden an der Ostküste von Santa Lemusa, wo die Rivière Dous in den atlantischen Ozean mündet. Das Schiff heisst «Voile Liberté» («Segel der Freiheit») – doch ich nenne es bloss «Prison des Sous» («Gefängnis des Geldes»). Denn es war das Geld, das mich dazu verführt hat, den Job als Koch und Mädchen für alles auf diesem Schiff anzunehmen – ich hätte wohl besser auf meinen Magen hören sollen, der schon beim ersten Kontakt mit Philippe knurrte wie ein in die Enge getriebener Hund.

Haus ohne Fenster

Eigentlich wollten wir in dieser Nacht die Insel umrunden, die Nebel des wilden Atlantiks hinter uns bringen, um dann im Morgengrauen in den friedlicheren Wassern der Karibik den neuen Tag zu beginnen, eine neue Geschichte, eine glücklichere Reise. Der Moment schien günstig. Doch kaum hatten wir die Baie de Bouden verlassen, frischte der Wind um einige Stärken auf. Da das Delta an einigen Stellen nur wenig tief ist, baut sich hier schnell eine wilde See auf, steile Wellen in kurzen Abständen. Bald konnten wir den Kurs nicht mehr halten, jede zweite Woge warf das Schiff aus dem Ruder. Gegen Mitternacht beschlossen wir die Rückkehr. Doch längst hatte uns der Sturm, pfiffen uns die Winde aus allen Richtungen um die Ohren. Mit jeder Welle schlug Wasser über die Reling und ins Boot hinein. Wir schafften es bei dem Seegang nicht, die Luke gänzlich zu schliessen, und also bildete sich am Boden der Kajüte ein kleiner See. Ich sah, wie mein Koffer von dem Wasser hin und her geworfen wurde – ein Boot im Boot.

Irgendwo ging eine Pumpe los, doch sie schien im Leeren zu saugen. Dann wurde es plötzlich ganz still. Ganz still. Auch die heranbrausenden Wogen waren nicht mehr zu hören – nur ein leises Pfeifen lag noch in der Luft. Wir starrten in die Nacht. – Und da trat aus der Dunkelheit eine Wasserwand, wie ein Haus ohne Fenster, und oben, ganz weit oben ein Dach aus weisser Gischt. Die Welle riss ein riesiges Loch in den Atlantik und mir war, als sähe ich den mit Tang dicht bewachsenen Meeresboden. Gleichzeitig sog diese Wasserwand das Schiff mit dem Heck voraus hinauf, weiter und noch weiter hinauf, brach sich endlich unter dem Kiel und rollte davon. Hätte sich die Flutwelle gebrochen, bevor wir ihren Kamm erreichten, sie hätte die fünf Tonnen Plastik und Metall mit dem bisschen Mensch darauf in den Grund der See gerammt – Bug voraus, einfach so.

Als wäre das Schiff aus Papier

Nun sass die Angst mit auf dem Boot. Das Ufer war fern, die Leuchttonne zur Fahrrinne in die Baie de Bouden noch lange nicht zu sehn. Mit den Wellen rasten wir durch die Nacht, halb vom Wind, halb vom Wasser getrieben. Dann und wann verschwand gar der Leuchtturm am Horizont hinter Regenschauern. Hielten wir noch den richtigen Kurs?

Plötzlich tauchte etwas vor uns auf, das ohne Licht im Wasser schwankte. «Scheisse», brüllte ich Philippe ins Ohr, der riss das Steuer herum und wir polterten daran vorbei. Es war eine Markierungstonne aus Stahl, die sich irgendwo losgerissen hatte. Noch angestrengter starrten wir nun in die Nacht, die Füsse fest in den Gurten und die Hände an den Schoten. Die Brecher spielten mit dem Schiff, als wäre es aus Papier.

Chen lou

Thierry kotzte über die Reling und über seine Kleider, lag dann schwach vor Übelkeit auf der Treppe zur Kajüte. Minuten reihten sich zu Stunden und immer noch war die Einfahrt zur Bucht nicht in Sicht. Das Ufer lag wie eine schwarze Ahnung irgendwo vor uns – versprach zugleich Rettung und höchste Gefahr. Eine leichte Abeichung vom Kurs schon hätte gereicht und wir wären unweigerlich auf Felsen gelaufen. Dann, endlich sahen wir vor uns ein rotes Blinken: die Einfahrtstonne zum Fahrwasser in die Bucht von Bouden. Chen lou heisst dieser Punkt im Kreolisch der Insel – diesen «Schweren Hund» werden wir wohl nie vergessen.

Dienst nach Vorschrift

Einen «gemütlichen Segelplausch» hatte Philipe versprochen: von Bucht zu Bucht tümpeln, Fische fangen und abends auf Deck den Sonnenuntergang mit einem Glas Bordeaux begiessen. «Auch für eine Landratte wie dich sollte das kein Problem sein», hatte Philippe mich ausgelacht. Ich war schon oft auf Booten mitgefahren, das hatte ich meinem Arbeitgeber auch erzählt – doch der hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass ich die Landratte mimen müsse. Anfangs hielt ich mich denn auch daran und tat an Bord nur das, wofür ich angeheuert war: Ich kochte und servierte den Herrschaften ihr Essen, Dienst nach Vorschrift sozusagen. Als aber dann das Wetter immer stürmischer wurde und einer nach dem anderen wegen Seekrankheit ausfiel, waren meine Segelkenntnisse plötzlich überlebenswichtig.

Seit drei Wochen sind wir nun unterwegs. Von Fort-de-France auf Martinique waren wir bei gutem Wetter und einem stabilen Nordwind nach Port-Louis auf Santa Lemusa gesegelt. Die Reise war ruhig verlaufen – ja wir hatten uns gar damit amüsiert, Jagd auf einen Haifisch zu machen, dessen Filet ich dann auf unserem Bord-Grill zubereitete.

Sturm aus Nordwesten

In Port-Louis gingen wir an Land und feierten den Erfolg unserer bisherigen Reise mit einigen farbenfrohen Cocktails und dem Besuch in einem nicht minder kolorierten Etablissement, das Philippe «la cathédrale du marin» («Semmansdom») nannte. Dann wollten wir «ruckzuck die Insel umrunden», wie unser Kapitän sich ausdrückte. Doch kaum hatten wir das Kap Kabrit passiert, schlug uns ein nasser Nordwestern entgegen. Zwei Stunden später blies uns eine Bö die Abdeckung des Heckeinstieges sowie die ganze Angelausrüstung von Bord und wir beschlossen, die Baie de Bouden anzulaufen. In der kommenden Nacht legte sich ein stürmisches Tief über die Küste, das auch in den folgenden Tagen nicht abziehen sollte.

Stapelweise schmutziges Geschirr

Wir warteten. Da der Aussenbordmotor unseres Schlauchbootes kaputt war, konnten wir das Schiff nicht verlassen: Mit dem Paddel wären wir gegen die starke Strömung in der Bucht nicht angekommen und in den kleinen Hafen trauten wir uns wegen unserer gut zwei Meter Tiefgang nicht rein.

Fast zwei Wochen lang sassen wir fest. Bald war der Wassertank leer, er fasste nur 300 Liter. Für Tee und Zähne hatten wir zwar einen Reservekanister, aber das schmutzige Geschirr türmte sich mit jedem Tag höher und höher. Auch gingen uns die Vorräte aus – zuerst das Fleisch, dann das frische Gemüse. Ich hatte bloss noch ein paar Tomaten, Knoblauch und Zwiebeln, verschiedene Konserven und einen ziemlich grossen Sack mit getrockneten Erbsen, die ich – eher aus einer Laune heraus – in Port-Louis an Bord genommen hatte. Die Erbsen glichen Kichererbsen und stellten die hässlichste Form von Hülsenfrucht dar, die ich je gesehen habe – aber sie schmeckten nicht schlecht und ersetzen uns in dieser Situation das Brot und mit ihrem hohen Eiweissgehalt auch das Fleisch.

«Prinzessin der Fürze»

Tag für Tag versuchte ich, neue Gerichte aus diesen trockenen Früchtchen zu zaubern – mal kombinierte ich sie mit Gewürzen zu einem Curry, mal mit Sardellen (Poêle Liberté), dann mit ein wenig Speck, der mir geblieben war. Ich war eigentlich der Ansicht, dass ich mit meiner kulinarischen Fantasie doch einiges zur Verbesserung der Lage beitrug. Philippe aber, der es trotz unserer misslichen Lage nicht lassen konnte, sich über mich lustig zu machen, nannte mich bald nur noch «Grossmeister der Erbse», «Abgas-Koch» oder gar «Prinzessin der Fürze». – Am sechsten oder siebten Tag ankerten ein paar ebenso neugierige wie betrunkene Fischer unmittelbar neben uns. Sie verwickelten uns in ein Gespräch und versuchten herauszufinden, woher wir kamen. Philippe erzählte ihnen eine hanebüchene Geschichte von einem geheimen Forschungsauftrag und der Entdeckung neuer Strömungen im Atlantik. Insgeheim hoffte ich, er möge die Fischer darum bitten, uns mit an Land zu nehmen. Aber das war nach dieser Aufschneiderei natürlich nicht mehr möglich. Immerhin kaufte er ihnen ein wenig frischen Fisch und ein paar Garnelen ab – eine ganz enorme Bereicherung für meine Erbsenküche.

Rotzbraun bis grau

Trotzdem wurde die Lage immer ungemütlicher. Der Geruch alternder Thunfischreste mischte sich aufs ungünstigste mit dem Schweissduft der vier kaum gepflegten Körper, die hier auf engstem Raum zusammen hausten. Alles war feucht, kein T-Shirt war mehr richtig trocken und die Seiten der Bücher klebten zusammen. Auch der Schlafsack war nass und von der Decke tröpfelte es kalt. Das Wasser in der Bucht war weder blau noch smaragdgrün, wie man es in der Karibik doch eigentlich erwarten dürfte, sondern rotzbraun bis grau. Und ständig trieb der Auswurf einer Zivilisation vorbei, die es irgendwo noch zu geben schien: Flaschen und Dosen, Stofffetzen, Plastiktüten, eine Coiffeur-Trockenhaube und Kinderspielzeug.

All diesen Umständen zum Trotz war die Stimmung an Bord nicht allzu schlecht, denn für Alkohol war ausreichend gesorgt. Skipper Philippe war ein Liebhaber grosser Bordeaux-Weine und hatte eine Sammlung von Châteaux an Bord genommen, auf die jedes Restaurant stolz gewesen wäre. Seine Laune war anhaltend gut und mit jedem Glas schwärmte er in tieferen Farben von seinen Abenteuern, zu denen zweifellos eines Tages auch unsere lange Ankerpartie in der Bucht von Bouden gehören würde.

Mit der See auf Du und Du

Philippe tat alles mit der betonten Schlampigkeit eines wahren Profis, der mit der See auf Du und Du ist. Sein Lebensziel: die Umsegelung von Kap Hoorn, der ganz grosse Kick, eines Tages. In den Kneipen von Fort-de-France und Port-Louis allerdings wischte er jedes Glas und jede Gabel an seinem T-Shirt ab – aus Angst vor Aids, wie er sagt.

Auf dem Meer ist jeder allein

Ich selbst habe eine eher ambivalente Beziehung zur See. Und um ehrlich zu sein, ist sie mir eigentlich dann am liebsten, wenn sie in der Form einer gut dotierten Meeresfrüchteplatte vor mir auf dem Tisch steht – bei «Beaufinger» in Paris zum Beispiel, in guter Gesellschaft, versteht sich. – Denn auf dem Meer selbst ist jeder allein. Verschwindet das Ufer hinter dem Horizont, beginnt zunächst eine ganz einfache Sorge um das eigene Leben. Man sehnt sich nach festem Boden unter den Füssen. Nur warum? Sieht man von den kleinen Zerstreuungen ab, die an Land jeden Atemzug begleiten, ist es doch hier an Bord gar nicht so anders, ist man doch auch hier sich selbst. Der Körper wird auf dem geriffelten Plastik der Sitzbänke hin und her geworfen, er gewöhnt sich an die Übelkeit und den Schwindel. Irgendwann lässt sich keine Beziehung mehr herstellen zwischen dem Denken und den Beinen, die da vor den Augen im Rhythmus der Wellenschläge herumtänzeln.

Ein Rettungsring für das Denken

Dann verschwinden auch die Angst und die Sehnsucht nach Land, sie weichen einer grundsätzlicheren Verunsicherung. Wer oder was denkt hier eigentlich? Man sucht die Stücke zusammen, die einen ausmachen – und findet nicht viel. Das Bild einer Frau taucht auf, wie ein Rettungsring für das Denken – ihre Brüste, ihre Lächeln, ihr warmer Schoss. Weg. Es bleibt nichts. Man glaubt nicht mehr daran, dass man je wieder rausfinden könnte. Woraus raus? Und vor allem: Was wird man finden? Doch da bricht eine Serie besonders starker Böen in die Genua ein, man krallt sich fest – gerade noch.

Zurück in die Kombüse. Kochen musste ich in den letzten Tagen immer im Ölzeug, denn trotz der Kardanaufhängung wollte der Risotto oft einfach nicht in der Pfanne bleiben. Der Eisschrank lieferte bald kein kaltes Bier mehr, dafür flüssige Butter und einen Gestank, der an die Austernparks nach der letzten Seuche denken liess. Immerhin: Auf die Geräusche der Zivilisation mussten wir nicht gänzlich verzichten, denn zwei bis drei Stunden täglich brummte der Dieselmotor im Leerlauf – wegen der Batterie. Und wenn Philippe sich rasierte, was zum Glück nur alle paar Tage mal vorkam, dann sang er durch den Schaum vor seinem Mund hindurch Opernarien: «Ach wie so trügerisch sind Frauenherzen...» – Als wir vor wenigen Stunden versuchten, diese verdammte Bucht endlich hinter uns zu lassen, haben uns einige Fischer von ihren Booten aus aufgeregt zugewinkt. Vielleicht wollten sie uns daran hindern, aus der Bucht zu laufen – aber Fischer verstehen ohnehin nicht, warum sich jemand freiwillig den Gefahren der See aussetzt.

Was die Fischer nicht wissen

Was die Fischer nicht wissen können: «Keine Kajüte ist so eng wie der Alltagstrott, kein Meer grösser als das der Gesichter einer Grossstadt», so schwärmte meine Freundin Afa, als ich ihr von meiner Unlust berichtete, mit Philippe und seinen zwei Freunden an Bord zu gehen. Im Moment liegt Afa wohl auf dem Dach ihres Hauses in Marseille und räkelt sich nackt in der Sonne. Und ich sitze mit drei Wahnsinnigen auf einem Schiff mit dem idiotischen Namen «Voile Liberté» und versuche, nicht in Panik auszubrechen. Das Wetter wird sich in den nächsten Tagen wohl nicht bessern. Und doch werden wir es wieder versuchen müssen, aus dieser Bucht zu kommen. Wenn nicht heute Nacht, dann eben morgen oder übermorgen.

Siehe auch

First Publication: 10-2006

Modifications: 23-9-2009, 30-10-2009, 2-11-2011