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Die grösste Mangrove der Insel liegt nördlich von Sentores.
Mangrove nördlich von Sentores.

«Die Austern von Layon»

von Sarah Tibuni

Layon war ein Seemann, ein Flötenspieler und einer, der all jene Plätze in den Mangroven kannte, wo die schönsten Austern wachsen. An manchen Tagen der Woche fuhr er im Morgengrauen aus und kehrte in der Dämmerung mit einem Schiff voller zuckender Fische in den kleinen Hafen von Sentores zurück. An anderen Tagen streifte er früh durch die Mangrovenwälder, um alsdann auf dem Markt des Dorfes die prächtigsten Austern feilzubieten – die Purpurfarbene genauso wie jene, deren Schaleninneres gefleckt ist wie das Fell einer Katze. Wenn der Mond aufging, dann nahm Layon gern seine Flöte hervor und blies auf ihr die alten Lieder der Insel – er brachte nicht mehr als sechs oder sieben verschiedene Töne hervor, doch in denen steckte seit einigen Wochen die ganze Wehmut der Welt.

Denn Layon war verliebt. Aina hiess sie und sie stammte aus einer Familie, die auf einem Hof etwas ausserhalb von Sentores wohnte. Aina war bekannt für ihre Klugheit und berühmter noch für ihre scharfe Zunge, die schon manchen Anwärter in die Flucht gespottet hatte. Nur Layon liess sich von ihren Sprüchen nicht abschrecken, denn es waren Ainas lebendige Augen, das schwarze Haar und die langen Muskeln unter der elastischen Haut, die dem Fischer den Kopf verdreht hatten. Wenn Layon beobachtete, mit welcher Eleganz sie sich die schwersten Lasten auf den Kopf hob, mit welch sicherem Schritt sie die schwierigsten Stege überquerte, dann legten sich seine Finger krampfhaft um die Flöte in seiner Tasche – allein er traute sich nicht. Aina wusste um die Gefühle des jungen Mannes und sonnte sich in dem Augenglanz, den sie provozierte – sie machte indes keinerlei Anstalten, ihm die Chance einer Annäherung zu geben und tat meist, als sei er schlicht aus Luft. «Diesem dummen Fischer», so lachte sie, wenn sie mit Freundinnen zusammensass, «diesem Fischer werde ich nicht an die Angel gehen – da mag er einen Köder aus Gold für mich legen».

Layon litt unter dem kühlen Stolz, mit dem Aina an seinem Herzfeuer vorbeischreiten konnte – und immer öfter kam es vor, dass er beim Fischen den schönsten Thunfisch oder Chamou vorbeiziehen liess und sein Boot stattdessen mit all den Seufzern füllte, die sich seiner Brust entrangen. Wochenlang ging das so. Die Leute begannen sich allmählich ernstliche Sorgen um Layon zu machen, der nun manchmal auch nachts durch die Mangroven strich und dabei seine Flöte bliess. Durch das Blattwerk des Waldes entstellt, drangen die Töne wie ein feines Wimmern an die Ohren der Schlafenden – und so schlich sich etwas von Layons Kummer allmählich in die Herzen aller Bewohner des Dorfes. Die Freundinnen, ja selbst die Eltern versuchten, Aina zu überreden, dem jungen Mann doch wenigstens einmal die Gunst einer kurzen Unterredung zu gewähren – doch Aina liess sich nicht erweichen. Zu sehr genoss sie es, im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit zu stehen. – Layon wurde von Tag zu Tag bleicher, seine Augen wurden stumm und auch das Spiel seiner Flöte wurde immer leiser. Von den alten Liedern schien ein einziger Ton zu genügen, ihm die Melancholie einer ganzen Ballade in die Brust zu pressen.

Die Menschen von Sentores kamen deshalb aus dem Staunen nicht mehr heraus, als Layon eines schönen Morgens mit einem Korb voller Austern und strahlendem Gesicht auf dem Marktplatz des Dorfes erschien. Auf Layon's Austern hatten die Feinschmecker lange verzichten müssen und auch sein einst so strahlendes Lächeln hatte vielen gefehlt. «Aïe, aïe bondyé, chansé sé mwen!», verkündete er allen, die sich vorsichtig nach seinem befinden erkundigten. «Ich bin glücklich, denn ich habe die ganze Nacht lang geträumt. Ich bin in den Mangroven eingenickt und Bondyé: Der Wald hat mir den schönsten aller Träume geschenkt». Man sah es ihm an, dass er sich sehr genau an diesen Traum erinnerte, dass da etwas war, das sich nicht wegwischen liess, das bleiben und wiederkehren würde weil es zurückkommen musste. Langsam, fast ein wenig triumphierend, begann er zu erzählen: «Ich gehe über einen Strand, meine Flöte in der Hand und das Lied vom ‹Lapen misiziyen› geht mir durch den Kopf. Da sehe ich Aina, die ganz alleine da sitzt und auf das Meer hinaus blickt. Ich gehe schnell auf sie zu. Sie hört die Kieselsteinchen nicht, die unter meinen Füssen davonrollen. ‹Yo ka gadé lammé épi toutt douôle›: Sie kommt mir so seltsam vor, wie sie da sitzt und auf das Meer hinausstarrt, melancholisch fast, eine Aina, wie ich sie noch nie gesehen habe. Deshalb bleibe ich in einiger Entfernung von ihr stehen. Lange schaue ich sie an. Dann werfe ich kleine Steinchen nach ihr und frage sie so nach alter Sitte, ob die Zeit denn wohl nun reif sei für einen ersten Kuss. Aus ihrer Träumerei gerissen, dreht sie sich zu mir um und ein Lächeln lässt ihre Züge noch schöner erscheinen. Da gehe ich zu ihr hin und sie behält mich bei sich die ganze Nacht.»

Bis ins kleinste Detail schilderte Layon all das Entzücken, das er in seinem Traum mit Aina erlebt hatte – und die Leute hörten zu, neugierig und vor allem erleichtert über den plötzlichen Wandel der Dinge. Denn ein Traum, das wissen alle, ein Traum lügt nie. Und zu einem Liebestraum darf man nicht nein sagen, denn das bringt Unglück, schlimmes Unglück. – Als er aufgewacht sei, so kam Layon zum Schluss seiner Erzählung, seien eben die ersten Strahlen der Sonne durch das Geäst in den Wald eingedrungen. Und da habe er zu seinen Füssen an einer Wurzel die schönsten Purpuraustern entdeckt – grösser als alle, die er je gesehen: «Die will ich nun Aina bringen und sie fragen, ob sie meine Frau werden will». Schwungvoll hob Layon den Korb auf seine Schulter und schritt davon, in Richtung jenes Hofes, den die Familie von Aina bewohnte. Lange noch standen die Leute auf dem Markt herum und diskutierten: Endlich würde Aina ihr Herz für Layon öffnen müssen, endlich würde Layon wieder seine begehrten Austern bringen, endlich würde er wieder all die sechs oder sieben Töne spielen, die er seiner Flöte zu entlocken vermochte. Und endlich, ja endlich würde man wieder ruhiger schlafen können.

Layon langte derweilen vor dem Haus Ainas an, stellte den Korb vor die Türe und rief den Namen der jungen Frau. Neugierig streckte diese den Kopf aus dem Fenster: «Aina, der Wald hat mir den schönsten aller Träume geschenkt und die Wasser haben mir diese Austern für dich gegeben». Überrascht von der plötzlichen Forschheit des jungen Layon war Aina einen Moment lang unsicher, was sie sagen sollte. Träume logen nie, das wusste sie. Und doch: Würde sie Layon's Drängen nachgeben, dann würde sie auch aufgeben müssen, was ihr jetzt Respekt und von manchen gar Bewunderung einbrachte: ihre stolze Unnahbarkeit. Das war ein hoher Preis, zu hoch für die junge Frau. Warum, so sagte sie sich also, sollten Layons Träume auch für sie Bedeutung haben. Und schlau wie sie war, fand Aina auch bald die richtige Antwort: «So lass uns denn teilen, wie die Natur es gegeben hat: Lass mir die Austern der Wasser und nimm du die Träume vom Wald.» – Layon verstand erst, als Aina ihren Worten ein höhnisches Lachen folgen liess und im Innern des Hauses verschwand. Minutenlang stand er da, blickte wirr auf die Austern zu seinen Füssen. Dann machte er kehrt und verschwand in Richtung Küste. Niemand hat ihn je wieder gesehen und man vermutete allgemein, er habe sich wohl irgendwo in den Mangroven ertränkt.

Das Unglück, das alle ereilt, die Träumen keinen Glauben schenken, liess lange auf sich warten – doch es kam. Genau drei Jahre nach jener Nacht, in der Layon seine Begegnung mit einer ganz anderen Aina geträumt haben muss, brach das Haus der Familie plötzlich ein – das Fundament war, ohne dass jemand etwas gemerkt hätte, vom unterirdischen Seitenarm eines nahen Flusses unterspült worden. Die Familie verlor ihr ganzes Hab und Gut – Aina aber verlor ihr Leben, begraben von einem Balken wurde sie vom Sumpf verschluckt.

Heute noch heisst es, wenn bei Sentores der Wind durch die Mangroven pfeift, dass der unglückliche Layon wohl wieder mal auf seiner Flöte spiele – ein Ton genügt für die Liebeswehmut der ganzen Welt. Da, wo einst der Hof der Familie von Aina stand, hat sich heute der Mangrovenwald breit gemacht. Die Leute aus Sentores haben den Ort lange gemieden, doch vor vier Jahren hat ein Pärchen aus Frankreich gerade diese Stelle ausgewählt, um die erste Austernzucht der Insel zu eröffnen. Im Andenken an den traurigen Fischer und Flötenspieler heissen ihre Muscheln «Les huîtres de Layon». Und da Geschichten mit einem traurigen Ausgang auch einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge hinterlassen, stellen sich die Feinschmecker der Insel heute gerne vor, dass der Liebestraum des jungen Fischers in der Weite der Mangroven vielleicht ja doch noch in Erfüllung gegangen sei.

In dem komplizierten Wurzelwerk der Mangrovenbäume sind die verschiedensten Tiere und Pflanzen zu Hause.
Wurzelwerk eines Mangrovenbaums.

Siehe auch

First Publication: 11-2002 (vormals PJ028)

Modifications: 26-2-2009, 18-8-2011