D | E  

Neuste Beiträge

HOIO und Cookuk

  • Das Tagebuch von Raum Nummer 8 (Susanne Vögeli und Jules Rifke)
  • HOIO-Rezepte in der Kochschule – das andere Tagebuch

Etwas ältere Beiträge

Grosse Projekte

Mundstücke

Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

In seiner 2. «WoZ»-Kolumne vom 21. November 2002 erzählt José Maria die abenteuerliche Geschichte von Henry Maté. Diese Story ist auch Teil eines Projektes, das HOIO für das Musée d'Art Contemporain von Lyon realisiert.
Ausschnitt aus einer Rezeptkarte mit kleiner Schrift.

2. Die Abenteuer von Monsieur M («Mit den besten Empfehlungen»)

Am 17. Juni 1964 wurde in Bordeaux der Wiener Psychiater Professor Dr. Heinrich Carl Matteiuszki von der Gendarmerie Nationale verhaftet. Nicht weil er ein Verhältnis mit der Frau des Bürgermeisters hatte, wie manche zunächst dachten, sondern weil er eigentlich Henri Maté hiess und ein Schiffskoch aus der Karibik war. Dass der Professor kaum ein Wort Deutsch sprach, war nie jemandem aufgefallen - waren doch alle überaus froh, dass sie sich mit ihm auf Französisch unterhalten konnten. Und die wenigen Begriffe wie etwa «unbewusst» oder auch «Triebkonflikt», die in ganz besonders dramatischen Momenten auf Deutsch über seine Lippen huschten, hatten völlig ausgereicht, jedem immer wieder die österreichische Herkunft des Professors in Erinnerung zu rufen.

In den zwei Jahren vor seiner Verhaftung hatte der Professor im Zentrum von Bordeaux, an der Rue des Augustins 43, eine eigene Praxis betrieben. Mit ahnsehnlichem Erfolg, was niemanden erstaunte - war der Professor doch, wie es hiess, mit den besten Empfehlungen direkt von der Salpetrière nach Bordeaux gekommen. Auch die Diplome, die alle vier Wände seines Wartezimmers füll ten, illustrierten, wenngleich in unverständlichem Deutsch abgefasst, die umfassende Kompetenz dieses Herrn. Und wenn jemand das Sprechzimmer betrat, dann begrüsste ihn der Professor mit dem Rücken zu einer immensen Bücherwand – ja manchen Klienten schien es geradezu, als sei er eben aus ihr hervorgetreten. – Der Professor vertrat eine eigenwillige Behandlungsmethode: Seine «Thérapie alimentaire» bestand darin, mit seinen Klienten immer wieder über Nahrungsmittel und deren Zubereitung zu reden – um so zu jenen Konflikten zu gelangen, die den Schwierigkeiten seiner Patienten zu Grunde lagen. In hartnäckigen Fällen liess er die Therapie gar in der Küche beginnen, wo er gemeinsam mit seinen Kunden kleine Speisen zubereitete - experimentelle Gerichte aus jenen Zutaten, die im Verlauf der Behandlung auf die eine oder andere Weise eine Rolle spielten.

Es war ein neidischer Kollege aus Bordeaux, der den Professor schliesslich an die Polizei verriet. Misstrauisch hatte er in der Salpetrière nachgefragt, und natürlich kannte dort niemanden einen Professor Dr. Heinrich Carl Matteiuszki – ein Patient mit dem ähnlich klingenden Namen Henri Mate indes war dort aktenkundig. 1961 war er von der Gendarmerie als notorischer Schwindler eingeliefert worden – die Untersuchungen ergaben einen Verdacht auf Schizophrenie. «Er hielt sich für einen grossen Künstler», hiess es aus Paris, «dabei ist er bloss ein Koch». – Die Gendarmerie in Bordeaux fand bald heraus, dass der Professor 1954 an Bord der Lorbas im Hafen von Marseille gelandet war. Auf diesem kleinen Frachter hatte er tatsächlich als Schiffskoch gearbeitet – als Koch und Mädchen für alles, um genau zu sein. Dann verlor sich seine Spur für rund drei Jahre – bis er im August 1957 in Lyon aktenkundig wurde. Dort hatte er einen Sommer lang auf dem Weiher im Parc de la Tête d'or eine Art von schwimmendem Restaurant betrieben – ein «Laboratoire culinaire», wie er es nannte.

Dass er keine Erlaubnis für den Betrieb dieses Speiseflosses hatte, wäre in diesen wenig übersichtlichen fünfziger Jahren wohl kaum ein Grund für einen Polizeieinsatz gewesen. Es war wiederum ein Konkurrent, er betrieb am Ufer des Weihers ein kleines Café, der dem Professor die Polizei auf den Hals hetzte: Er behauptete nämlich, auf dem Floss werde Menschenfleisch serviert. Und tatsächlich fand die Polizei eine Speisekarte mit einer längeren Abhandlung über den internationalen Kannibalismus. Bei den Untersuchungen der Küche indes stiess man zwar auf allerlei seltsame Zutaten, von Menschenfleisch aber fand man keine Spur. Dennoch wurde das Lokal des Professors geschlossen. – Die Recherchen der Gendarmerie von Bordeaux waren ergiebig, einen wirklich kriminellen Sachverhalt brachten sie jedoch nicht ans Licht – einmal abgesehen von den falschen Titeln und Namen, die der Koch an der Tür seiner Praxis angeschrieben hatte. Ein Professor für Deutsche Sprache, der zur Untersuchung der Diplome beigezogen wurde, entlarvte diese als von Hand und mit allerlei Fehlern abgeschriebene Gedichte von Heinrich Heine. Die grosse Bibliothek bestand aus einer bunten Mischung aus Werken zur Psychologie und zur Kochkunst. Viel war da für eine Anklage nicht zu holen. Und da sich auch die befragten Klienten, wenngleich einige doch ziemlich irritiert waren, schlicht weigerten, rechtliche Schritte gegen ihren vermeintlichen Arzt zu unternehmen, zog die Polizei in ihrer Not einen echten Psychiater zu Rate. Nach einer mehrstündigen Unterredung verliess dieser kopfschüttelnd die Zelle: «Er hält das, was er tut, für Kunst – was soll man da machen?»

Damit fürs erste Genug von Henri Mate. Mir ist diese Geschichte vor ein paar Tagen wieder eingefallen, als ich in der Nähe des Bahnhofs von Bern zwei Polizisten beobachtete, die sich auf Englisch mit einem älteren Geigenspieler unterhielten, offenbar ein Mann irgendwo aus dem Osten. Ärgerlich schüttelte einer der Beamten den Kopf: «Nein, nein, was sie da tun, das ist keine Kunst, das ist Bettelei, und Bettelei ist bei uns verboten».

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 21. November 2003, Nr. 47 / S. 20.

Ausschnitt aus der Menukarte des «Laboratoire culinaire» von Henri Maté.
Menu-Karte mit verschiedenen Zeichnungen.