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Ausstellung zur Dagographie im Herbst 2004 im Kunsthaus Baselland in Muttenz.

«Die Geschichte der Dagographie»

von José Maria

Im Winter 2003, ich weilte erst kurze Zeit als Gastkünstler in der Schweiz, lernte ich anlässlich eines Essens mit indischen Spezialitäten, dass «Linse» in der deutschen Sprache sowohl die optische Linse etwa eines Fotoapparates wie auch Speiselinse bedeutet. Da kam mir unser alter Lehrer Dago in den Sinn. Er war ein schrulliger Weissbart, der uns in Mathematik, Physik, Geographie und Philosophie unterrichtete. Vor allem aber war Dago ein begeisterter Photograph – und er setzte viel missionarischen Eifer daran, diese Faszination auch an seine Schüler weiterzugeben.

Ein wahrer Missionar

Allerdings waren die Mittel auf Santa Lemusa damals erheblich knapper noch als heute. Die Schule verfügte deshalb weder über ein Labor, noch über Fotokameras, Filme, Chemikalien etc. Dago selbst war zwar stolzer Besitzer eines Apparates mit verschiedenen Objektiven und eines gut eingerichteten Labors. Doch war Dago eben auch ein wahrer Missionar. Und das hiess: Ganz wie ein strenger Priester die Ungläubigen erst in seine Kirche lässt, wenn sie die Taufe hinter sich haben, mussten auch wir uns die Ehre einer Bekanntschaft mit Dagos Fotoausrüstung erst einmal verdienen. Was bedeutete, dass wir die Funktionsweise des Mediums und seine elementaren Regeln (also das Vaterunser und die zehn Gebote) von Grund auf erlernen mussten. Und das begann damit, dass uns Dago eines Tages befahl, von zu Hause eine Kartonschachtel inklusive Deckel mitzubringen.

Ein Geruch in der Schule

Als wir am nächsten Morgen in die Schule kamen, roch es seltsamerweise im ganzen Haus nach Suppe. Und tatsächlich: Dago hatte neben seinem Pult ein kleines Stövchen eingerichtet, auf dem eine Linsensuppe brodelte. Mit seinem typischen, leicht schiefen Lächeln ignorierte der alte Fuchs die irritierten Blicke, die wir uns gegenseitig zuwarfen. Der Unterricht begann. Mit einem Nagel bohrte Dago auf der einen Seite einer Schachtel ein kleines Loch in den Karton und klebte ein Stück Papier darüber. Danach strich er mit einem Messer eine feine Schicht der Linsenpampe auf die gegenüberliegende Innenseite und setze schnell den Deckel auf. Wir folgten seinem Beispiel.

Das Bild in der Suppe

Jeder mit seiner Schachtel unter dem Arm verliessen wir alsdann die Schule und zogen hinter unserem Lehrer her zum Strand von Lugrin im Süden der Stadt. Dort brachten wir unsere Boxen vor einer mächtigen, vom Wind in eine arge Schräglage geblasenen Palme in Position und zogen das Papierchen von dem Loch in unseren Schatullen weg. Gemeinsam sangen wir das Lied von dem Piraten, der sich in die Fussspur einer jungen Frau verliebt hatte - alle sechs Strophen. Dann klebten wir die Papierchen wieder vor das Loch und kehrten mit unseren Boxen in die Schule zurück. Wir hängten Schilfmatten vor die Fenster unseres Zimmers, um das einfallende Licht zu dämpfen und versammelten uns dann um das Pult des Lehrers. Es war ganz still in dem Raum - wohl auch weil wir wegen des ständigen Suppenduftes erst hungrig und dann ein wenig schläfrig geworden waren. Sorgfältig hob Dago den Deckel leicht an und zog ihn dann mit einem schnellen Ruck von der Schachtel weg. Erst sah ich gar nichts, doch dann erkannte ich da tatsächlich ein Bild der grossen Palme vom Strand von Lugrin – schwach zwar nur, auf dem Kopf und seitenverkehrt, doch eindeutig identifizierbar zeichnete es sich in der Linsenpaste ab.

Das Problem des Fixierens

Das Ergebnis war faszinierend - und die Sache erfüllte ihren didaktischen Zweck. Denn nun hatten wir verstanden, wie das mit der Bündelung der Lichtstrahlen und dem lichtempfindlichen Material funktionierte. Die Linsensuppe als photosensibles Material hatte allerdings einen Nachteil: Sie liess sich nicht fixieren - und also dunkelte das ganze Bild wenige Sekunden nach dem entfernen des Deckels zu einer braunen Masse ein, in der sich nichts mehr erkennen liess. – Als ich die Gelegenheit bekam, an einer Ausstellung zum Thema Camera Obscura teilzunehmen («Loch statt Linse» im Kunsthaus Langenthal), musste ich natürlich wieder an Dago und seine eindrückliche Demonstration der photographischen Prinzipien denken. Ich beschloss, dass mein Beitrag zu dem Projekt aus dieser Erfahrung meiner Kindheit heraus entwickelt werden sollte.

Experimente mit Linsen

Also stellte ich verschiedene Nachforschungen an. Vor allem beschäftigte ich mich mit dem Problem der Fixierung. Im Verlauf einiger Experimente fand ich heraus, dass auch halbierte, jedoch ungekochte Masu-Linsen (sogenannte Korallen-Linsen, eine Spezialität von Santa Lemusa) ziemlich gut auf Licht reagieren – unter der Bedingung, dass sie zuvor an einem dunklen Ort getrocknet und so quasi für die Belichtung sensibilisiert worden sind. - Dem Engagement der Ernährungswissenschaftlerin Ginette Olivier habe ich es zu danken, dass in Zusammenarbeit mit der Firma Divini - Fruits & Légumes im Anschluss an die Frühjahrsernte einige Dosen mit solcherart lichtempfindlich gemachten Linsen hergestellt werden konnten. Ich konstruierte eine Apparatur aus Holz, die es mir gestattete, die zwischen zwei Plexiglasscheiben gepressten Linsen durch ein Loch zu belichten - ganz wie bei Dagos Linsensuppen-Kamera. Das Resultat ist bei dem Verfahren mit gespaltenen Roh-Linsen zwar etwas grobkörniger als bei der Suppen-Methode meines Lehrers, dafür aber habe ich eine einfache und doch äusserst effektive Methode herausgefunden, das Bild zu fixieren: Es genügt nämlich, unmittelbar nach der Belichtung ein wenig Salzblume über die Linsen zu streuen.

Erste Bilder

Anlässlich eines Aufenthaltes in meiner Heimat im Juni 2003 nahm ich mit Hilfe dieser Kamera eine erste Reihe von Bildern auf - am Strand, im Wald, in den Bergen und in der Stadt. Diese Dagographien, wie ich das Verfahren nach meinem alten Lehrer nenne, zeigte ich dann erstmals im Rahmen der erwähnten Ausstellung in Langenthal. Auch die Apparatur und die Hilfsmittel wurden ausgestellt. Wenige Tage nach dem Ende der Ausstellung in Langenthal trat Michel Babye vom Musée historique in Santa Lemusa mit mir in Verbindung. In der Folge davon wurden die Apparatur und die Aufnahmen im Winter 2003/2004 im Rahmen einer kleinen Sonderausstellung im ehemaligen Couvent St. François präsentiert. In den Archiven des Museums (Bibliothèque et Archives Nationales) fanden wir bei dieser Gelegenheit zufällig auch eine Fotografie, die Dago als jungen Mann zeigt: Noch ohne Bart, doch bereits mit runder Brille und dem unverkennbar schiefen Lächeln.

Neue Aufnahmen

Im Sommer 2004 wurde in der Vorbereitung einer Ausstellung im Kunsthaus Baselland in Muttenz (Schweiz) zusätzlich ein Videofilm realisiert, der das Verfahren der Dagographie erläutert. Diese für Muttenz gestaltete, von Michel Babye betreute Ausstellungs-Set umfasst diesen Film, die dagographische Apparatur und Zubehör, die Bilder von Santa Lemusa und neue Aufnahmen, die rund um Basel entstanden sind. Die Ausstellung wurde unter der Regie des Musée historique von Santa Lemusa organisiert und vom Office du Tourisme (SLOT), Divini Fruits & Légumes sowie von HOIO finanziell unterstützt.

Ansichten von Santa Lemusa – aufgenommen von José Maria mit Hilfe einer dagographischen Apparatur.

First Publication: 9-2003 (vormals PJ050)

Modifications: 13-3-2009, 1-11-2011