D | E  

Neuste Beiträge

HOIO und Cookuk

  • Das Tagebuch von Raum Nummer 8 (Susanne Vögeli und Jules Rifke)
  • HOIO-Rezepte in der Kochschule – das andere Tagebuch

Etwas ältere Beiträge

Grosse Projekte

Mundstücke

Gewürze aus Santa Lemusa

Abkürzungen

Die Rue des Augustins in Bordeaux im Herbst 2002.

Die Abenteuer des Monsieur M

Am 17. Juni 1964 wurde in Bordeaux der Wiener Psychiater Professor Dr. Heinrich Carl Matteiuszki von der Gendarmerie Nationale verhaftet. Nicht weil er ein Verhältnis mit der Frau des Bürgermeisters hatte, wie manche zunächst dachten, sondern weil er eigentlich Henri Maté hiess und ein Schiffskoch aus der Karibik war. Dass der Professor kaum ein Wort Deutsch sprach, war nie jemandem aufgefallen - waren doch alle überaus froh, dass sie sich mit ihm auf Französisch unterhalten konnten. Und die wenigen Begriffe wie «unbewusst» oder «Triebkonflikt», die in besonders dramatischen Momenten auf Deutsch über seine Lippen huschten, hatten völlig ausgereicht, jedem immer wieder die österreichische Herkunft des Professors in Erinnerung zu rufen.1

Mit den besten Empfehlungen

In den zwei Jahren vor seiner Verhaftung hatte der Professor im Zentrum von Bordeaux, an der Rue des Augustins 43, eine eigene Praxis betrieben. Mit ahnsehnlichem Erfolg, was niemanden erstaunte - war der Professor doch, wie es hiess, mit den besten Empfehlungen direkt von der Salpetrière nach Bordeaux gekommen. Auch die Diplome, die alle vier Wände seines Wartezimmers füllten, illustrierten, wenngleich in unverständlichem Deutsch abgefasst, die umfassende Kompetenz dieses Herrn. Und wenn jemand das Sprechzimmer betrat, dann begrüsste ihn der Professor mit dem Rücken zu einer immensen Bücherwand – ja manchen schien es geradezu, als sei er eben aus ihr hervorgetreten.

Im ersten Stock dieses Hauses an der Rue des Augustins 43 in Bordeaux hatte Professor Dr. Heinrich Carl Matteiuszki von 1962 bis 1964 seine Praxis eingerichtet. Nach Auskunft der Nachbarn sollen die Räumlichkeiten in den Jahren danach abwechselnd als Büro, als Lager und vor allem auch als Wohnung genutzt worden sein. Mehrfach wechselten die Besitzer. In den 1980er Jahren eröffnete ein junges Ehepaar aus dem Elsass im ersten Stock ein Restaurant mit Grill – ob sie wohl etwas von der kulinarischen Vergangenheit ihrer Lokalitäten ahnten? Als HOIO im September 2002 im Rahmen seiner Recherchen nach Bordeaux kam, stand das Haus erneut zum Verkauf.

Der Professor vertrat eine eigenwillige Behandlungsmethode: Seine «Thérapie alimentaire» bestand darin, mit seinen Klienten immer wieder über Nahrungsmittel und deren Zubereitung zu reden – um so zu jenen Konflikten zu gelangen, die den Schwierigkeiten seiner Patienten zu Grunde lagen. In hartnäckigen Fällen liess er die Therapie gar in der Küche beginnen, wo er gemeinsam mit seinen Kunden kleine Speisen zubereitete – experimentelle Gerichte aus jenen Zutaten, die im Verlauf der Behandlung auf die eine oder andere Weise eine Rolle spielten. Während dieser zwei Jahre soll der Professor auch eine Art Logbuch seiner therapeutischen Arbeit geführt haben, in das er nicht nur Reflektionen über seine Patienten notierte, sondern auch die Rezepte niederschrieb, die im Verlauf der Behandlung erfunden wurden.2

Schwindler im Lendenschurz

Es war ein neidischer Kollege aus Bordeaux, der den Professor schliesslich an die Polizei verriet. Misstrauisch hatte er in der Salpetrière nachgefragt, und natürlich kannte dort niemanden einen Professor Dr. Heinrich Carl Matteiuszki – ein Patient mit dem ähnlich klingenden Namen Henri Mate indes war dort aktenkundig. 1961 war er von der Gendarmerie als notorischer Schwindler eingeliefert worden – die Untersuchungen ergaben einen Verdacht auf Schizophrenie. «Er hielt sich für einen grossen Künstler», hiess es aus Paris, «dabei ist er bloss ein Koch».

Tatsächlich führte der Professor zwischen 1958 (oder 1959) und 1961 eine kleine Galerie an der Rue du Couédic im 14. Arrondissement von Paris. Dort verkaufte er Eingeborenenkunst von der Insel Morrell, einem kleinen Eiland auf halber Höhe zwischen Kalifornien und Japan, nordwestlich des Archipels von Hawaii. Die recht günstigen Preise und die originellen Stücke, die er immer wieder anzubieten hatte, brachten ihm schnell einen ansehnlichen Kundenkreis ein. Ausserdem veranstaltete er für seine besten Klienten von Zeit zu Zeit sogenannte Patisoups – ethno-folkloristische Abende, an denen man im Hinterzimmer der Galerie nur mit einem Lendenschurz bekleidet auf Bastmatten sass und sich gemeinsam aus einem Topf mit Suppe bediente. Natürlich kochte Maté dieses Suppe nach Art der Eingeborenen von Morrell - und er versicherte gar, dass man nach demselben Rezept früher auch das Fleisch von im Kampf erlegten Feinden zubereitet habe. Dieser barbarische Kitzel war es wohl, der immer mehr Kunden zuerst ins helle Licht der Galerie und dann in das nur mit wenigen Kerzen beleuchtete Hinterzimmer lockte.

Eingeborenen-Kunst

Die Dinge nahmen indes eine abrupte Wende als der Professor seine Haushälterin entliess weil sie Geld gestohlen hatte. Von Schuldgefühlen gepeinigt entschloss sich die Frau zur Rache. Und so erzählte sie einem der besten Kunden des Professors, dass Maté die ganzen Kunstobjekte der Eingeborenen von Morrell selbst anfertige, in einem Atelier über der Galerie. Da der Kunde ihr nicht glauben wollte, ging sie gar noch einen Schritt weiter und öffnete ihm mit einem Nachschlüssel, den sie in haushälterischer Voraussicht zurückbehalten hatte, die Tür zu der bewussten Werkstatt. Schnell wurde die Polizei eingeschaltet und nahm den Galeristen wegen Fälschung von ethnologischen Kunstobjekten der Insel Morrell in Haft. Die Suppenabende fanden in den behördlichen Protokollen allerdings nirgends Erwähnung. Die Untersuchungen brachten indes eine weitere Überraschung ans Tageslicht: Es gab zwar manche Atlanten wie den «Times Atlas» oder die Karten der National Geographic Society, auf denen die Insel Morrell verzeichnet war, die Experten der französischen Seefahrtsgesellschaft waren sich jedoch einig, dass eine Insel mit diesem Namen und in dieser Gegend der Welt wohl gar nie existiert habe. Es war ein Kapitän Benjamin Morrell, der diese sagenhafte Eiland in den 1820er Jahren erfunden hatte, um so Sponsoren für seine abenteuerlichen Reisen zu gewinnen.3

Zu Fuss durch Europa

Der Tatbestand der Fälschung war so im Fall von Maté nicht mehr wirklich gegeben – und da der Galerist darauf beharrte, dass das ganze Unternehmen als ein Kunstwerk zu verstehen sei, brachten ihn die Gendarmen schliesslich in die Salpetrière. Ein gutes Jahr lang blieb er dort, bewies Einsicht und begann sich gar intensiv mit Psychologie zu beschäftigen. Im Winter 1962 wurde er entlassen und tauchte wenig später als Professor Dr. Heinrich Carl Matteiuszki in Bordeaux wieder auf. – Die Gendarmerie von Bordeaux stellte weitere Nachforschungen an und fand bald heraus, dass der Professor wohl tatsächlich am 24. Dezember 1919 in Sentores zur Welt gekommen war - ganz so wie es im Passport von Henri Maté stand. Abklärungen der Behörden von Santa Lemusa ergaben, dass er sich als schwer erziehbares Kind schon im Alter von 14 Jahren als Schiffsjunge auf verschiedenen Frachtern in der Karibik hatte verdingen müssen. Viele Jahre schon hatte die Familie nichts mehr von ihm gehört und sie schienen auch jetzt nicht besonders interessiert. Die Gendarmen fanden ebenfalls heraus, dass der Professor 1954 an Bord der «Lorbas» im Hafen von Marseille gelandet war. Auf diesem kleinen Frachter hatte er tatsächlich als Schiffskoch gearbeitet - als Koch und Mädchen für alles, um genau zu sein. Dann verlor sich seine Spur für rund drei Jahre - der Professor selbst behauptete, er sei während dieser Zeit «zu Fuss durch Europa gewandert», habe Deutschland, die Schweiz, Österreich, Italien und Griechenland besucht. Diese Angaben liessen sich indes weder bestätigen noch eindeutig widerlegen.

Ein schwimmendes Restaurant

Im August 1957 dann aber wurde er in Lyon aktenkundig. Dort hatte er einen Sommer lang auf dem Weiher im Parc de la Tête d'Or eine Art von schwimmendem Restaurant betrieben – ein «Laboratoire culinaire», wie er es nannte. Dass er keine Erlaubnis für den Betrieb dieses Speiseflosses hatte, wäre in diesen wenig übersichtlichen fünfziger Jahren wohl kaum ein Grund für einen Polizeieinsatz gewesen. Es war wiederum ein Konkurrent, er betrieb am Ufer des Weihers ein kleines Café, der dem Professor die Polizei auf den Hals hetzte: Er behauptete nämlich, auf dem Floss werde Menschenfleisch serviert. Und tatsächlich fand die Polizei eine Speisekarte mit einer längeren Abhandlung über den internationalen Kannibalismus. Bei den Untersuchungen der Küche indes stiess man zwar auf allerlei seltsame Zutaten, von Menschenfleisch aber fand man keine Spur. Dennoch wurde das Lokal des Professors geschlossen. – Henri Maté hatte versucht, seine Kunden mit einer gefalteten Werbe– und Speisekarte anzulocken, auf deren Cover er einen Text zum Thema Kannibalismus platzierte. Eine dieser Karten hat sich erhalten.4

Die Werbe– und Speisekarte, mit der Henri Maté seine Kundschaft zu verlocken suchte, ist auch mit verschiedenen Illustrationen versehen. Unter dem Text zum Kannibalismus auf der Vorderseite der Speisekarte erkennt man eine Figur, die wie eine etwas unbeholfene Zeichnung des David von Michelangelo wirkt – ohne Kopf allerdings. Die einzelnen Körperpartien sind durch feine, gestrichelte Linien voneinander abgesetzt und die ‹Partien› mit Begriffen wie «Gigot», «Patte», «Pied» oder «Alo yau» angeschrieben - ganz wie wir es von schematischen Darstellungen beim Metzer kennen, die uns zeigen, von welcher Partie eines Tiers die einzelnen Fleischsstücke stammen.

Der Kannibalismus sei im Begriff, aus der Mode zu kommen, schreibt Maté da, deshalb empfehle er den Besuch in seinem «Laboratoire culinaire» - «c'est tout aussi excitant». Auf der Rückseite der Karte findet sich ein zweiter Text, der mit blumigen Worten die Küche von Lyon mit all ihren Spezialitäten lobt. Noch aufregender, so heisst es auch hier am Schluss des Textes, sei jedoch ein Besuch im «Laboratoire culinaire» auf dem Lac de Lyon mitten im Parc de la Tête d'Or. Im Innern der Karte bietet Maté verschiedene Speisen mit seltsamen Namen an. Die knappen Beschreibungen der Gerichte werden von kleinen, leicht erotischen Texten begleitet. Henri Maté hoffte wohl, dass der Genuss der Speisen bei seinen Kunden entsprechende Phantasien provozieren würde. Aus heutiger Sicht können wir dieses Laboratorium vielleicht als ein frühes Experiment im Bereich der Erlebnisgastronomie verstehen.5

«À la mode du professeur»

Wie Maté zu einem Floss auf diesem Weiher gekommen ist, wissen wir nicht. Dagegen haben sich einige Postkarten erhalten, die oft beidseitig mit kleinen Geschichten und Rezepten beschrieben sind, teils in kreolischer, teils in französischer Sprache – manchmal mit der Feder, meist aber mit Bleistift und in einer so winzig kleinen Schrift, dass sie sich fast nur mit einer Lupe lesen lässt. Diese Karten illustrieren, dass Maté tatsächlich mit verschiedenen Zubereitungstechniken experimentierte: Da werden Zutaten weggestrichen, kommen andere hinzu, werden Kochzeiten und Abfolgen verändert. Ja auf manchen der Karten finden sich auch kleine Skizzen, die andeuten, wie die Speisen auf dem Teller präsentiert werden sollen. Diese Karten befinden sich heute im Besitz von Christina Soime und es kommt immer wieder vor, dass im «Bel Bato» Gerichte angeboten werden, die nach diesen Zubereitungsanweisungen von Henri Maté gekocht wurden.6 Ja einzelne Rezepte haben unterdessen gar den engeren Rahmen des Restaurants verlassen und erfreuen sich auf der ganzen Insel grosser Beliebtheit – so zum Beispiel Piebò, Kracha, Kokonèg Tjilt oder Lonbraj, die gerne «à la mode du professeur» gekocht werden. – Und es erstaunt wohl kaum, dass die Zubereitung dieser Speisen auf der Insel Santa Lemusa mit ihrer Liebe zu Geschichten und Legenden natürlich auch immer zum Anlass genommen wird, wieder einmal vom Professor zu reden, dessen Abenteuer im fernen Europa zu schildern, und alles natürlich auch ein wenig bunter zu machen als es ohnehin war. Einzig die Familie von Henri Maté scheint daran keine Freude zu haben.

Kochkunst und Psychologie

Die Recherchen der Gendarmerie von Bordeaux waren also ergiebig, einen wirklich kriminellen Sachverhalt brachten sie jedoch nicht ans Licht - einmal abgesehen von den falschen Titeln und Namen, die der Koch an der Tür seiner Praxis angeschrieben hatte. Ein Professor für Deutsche Sprache, der zur Untersuchung der Diplome beigezogen wurde, entlarvte diese als von Hand und mit allerlei Fehlern abgeschriebene Gedichte von Heinrich Heine. Die grosse Bibliothek bestand aus einer bunten Mischung aus Werken zur Psychologie, zur Kochkunst und Nahrungsmittelkunde. Viel war da für eine Anklage nicht zu holen. Und da sich auch die befragten Klienten, wenngleich einige doch ziemlich irritiert waren, schlicht weigerten, rechtliche Schritte gegen ihren vermeintlichen Arzt zu unternehmen, zog die Polizei in ihrer Not einen echten Psychiater zu Rate. Nach einer mehrstündigen Unterredung verliess dieser kopfschüttelnd die Zelle: «Er hält das, was er tut, für Kunst – was soll man da machen?» Der Gendarmerie von Bordeaux blieb nichts anderes übrig, als den falschen Professor wieder auf freien Fuss zu setzen. An diesem Punkt verlieren wir die Spur von Henri Maté. Einige behaupten, er soll in die Vereinigten Staaten ausgewandert sein. Andere glauben, dass er nach Santa Lemusa zurückgekehrt sein muss. Doch das, so ist zumindest Christina Soime überzeugt, ist wohl eher nicht der Fall: «Wenn er hier auf der Insel wäre, dann wüsste ich das. Ist er noch am Leben, dann bin ich sicher, ist er auch immer noch in Frankreich – und Gott allein weiss, was er da gerade tut…»7

Henry Matés Weiher im Parc de la Tête d'Or von Lyon.

Anmerkungen

  1. Viele Informationen, die diesem Artikel zu Grunde liegen, verdanken wir Christina Soime (geb. Carlier), der Inhaberin des Restaurants «Bèl Bato» am Ufer der Miosa. Sie gehörte bis 1964 zu den Patienten des Professors und gelangte in den späten 1960er Jahren nach Santa Lemusa.
  2. Christina Soime ist überzeugt, dass sich dieses Logbuch im Besitz der Familie Maté befindet. Nach Chantal Maté, einer entfernten Nichte des Professors, soll es jedoch in Bordeaux verloren gegangen sein.
  3. Seefahrer haben immer wieder Inseln entdeckt, die dann niemand je hat wiederfinden können. Im fünften Jahrhundert schon ist der Mönch Brendan mit Getreuen aufgebrochen, die Insel der Seeligen zu suchen - und soll sie auch tatsächlich gefunden haben. Ein weiteres prominentes Beispiel ist die Insel Buss, die Kapitän Martin Frobisher 1578 zwischen Grönland und Island entdeckte. Von vielen dieser Phänomene spricht der amerikanische Segler Donald S. Johnson in seinem Buch «Phantom Islands of the Atlantic: The Legends of Seven Lands That Never Were» (Walker & Co., 1996). Vergleiche dazu auch einen Text aus der «Neuen Zürcher Zeitung», in dem auch von der Entdeckung von Santa Lemusa die Rede ist.
  4. An dieser Stelle möchten wir noch einmal Christina Soime danken, die uns gestattet hat, das in ihrem Besitz befindliche Exemplar dieser Werbekarte phototechnisch zu reproduzieren.
  5. Am Ende der Texte über den Kannibalismus und die Küche Lyons findet sich ein Hinweis auf deren Herkunft. Sie stammen aus einem Buch über die Küchen der Welt («Le monde à table»), das Doré Ogrizek 1952 beim Verlag Odé herausgegeben hat. Die Herkunft der Texte im Karteninnern konnten wir nicht näher bestimmen - es ist denkbar, dass sie aus der Feder von Maté stammen. Die Namen einiger Gerichte haben Ähnlichkeiten mit kreolischen Ausdrücken, eindeutig übersetzen lassen sie sich jedoch nur in selten Fällen.
  6. Es war wiederum Christina Soime, die uns Kopien dieser Karten zur Verfügung gestellt hat. Sie hat auch die Abschrift der Rezepte besorgt, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden.
  7. Eine erste Version dieses Textes, der im Kern aus der Feder von José Maria stammt, erschien am Donnerstag, 21. November 2002 in «Die Wochenzeitung» (S. 20).

Siehe auch

First Publication: 11-2002 

Modifications: 11-3-2009, 16-8-2011