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Auf der Halbinsel Boso

Szene 7

Während der Stosszeiten ist das Bahnnetz von Tokio so überlastet, dass die Reisenden von Angestellten mit weissen Handschuhen richtiggehend in die Wagons hineingestopft werden müssen. Menschen aus dem Westen neigen in solchen Situationen dazu, durch eine Art Selbstaufblähung den eigenen Raum zu behaupten. Japaner hingegen haben die Tendenz, unter Druck zu schrumpfen – so sehr, dass das Gesamtvolumen der Menschen in diesem Land trotz steigender Bevölkerungszahl ständig ein wenig schwindet.*

* Das behauptet jedenfalls Hiroki Ume, der an der Universität von Port-Louis Japanologie lehrt. Er richtet sich  damit gegen Behauptungen, die  Schrumpfung des japanischen Gesamt-Menschen-Volumens habe mit der Überalterung der Bevölkerung zu tun.

Die Bahn allerdings, mit der sich Hektor Maille nach Süden fahren liess, war das pure Gegenteil von überfüllt. Ja ein Gang durch die Wagons machte klar, dass der ganze Zug weitgehend menschenleer war, nicht einmal ein Schaffner war zu finden. Das passte. Denn seit sich Marie und seine Köchin ganz offensichtlich mehr mit sich selbst als mit ihm beschäftigten, fühlte sich Hektor Maille auch auf seiner Mission zunehmend einsam. Dabei fehlte es gar nicht nur an Partnern oder Freunden, sondern auch an Gegenspielern, an intriganten Feinden und falschen Kameraden. Zunächst hatte Hektor Maille gedacht, die wollten sich einfach nicht zeigen. Unterdessen aber war er ziemlich sicher, dass die wahre Agenten-Geschichte mit ihren Schiessereien, Prügeleien und Verheissungen schlicht in einer anderen Realität stattfand – in einer Wirklichkeit, aus der er selbst, ohne es wirklich zu merken, herausgefallen war. Er fühlte sich als hinge er über der eigentlichen Story in der in der Luft – so wie der Fisch in einem Tanka von Kuzuhara Taeko über der Oberfläche des Wassers schwebt, in das er nie wieder zurückkehren wird:

Suichū yori
ippiki no uo
haneidete
tachimachi mizu no
omote awasariki

Aus Wassertiefen
schoss ein einzelner Fisch
in die Höhe
und alsbald schloss sich
nahtlos die Wasserfläche

Vielleicht fragt sich der Fisch nach einiger Zeit des Hängens, ob er denn überhaupt je in dem Wasser drin gewesen ist. Im besten Fall wüchsen ihm Flügel und er flöge davon – als Beweis für die Wahrheit der Zeilen von Itō Kazuhiko:

Otōto yo
wasururu nakare
amagakeru
toritach omoki
naizō motsu o

Mein junger Bruder
niemals solltest du vergessen:
auch die leicht
am Himmel schwebenden Vögel
haben schwere innere Organe

Gedichte und Übersetzungen aus: «Gäbe es keine Kirschblüten…». Stuttgart: Reclam Verlag, 2009. S. 151 resp. 187. Hören Sie wie die Gedichte auf Japanisch klingen.