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Jerusalem, Kotel (Klagemauer)

Szene 11

Selbstverständlich hatte Aral die Schekel-Note mit seiner Nachricht in der Klagemauer versteckt – und also war Maille wohl der einzige Mensch auf Erden, der hier nicht eine Botschaft hinterliess, sondern eine abholte. Als er allerdings mit seiner Hand die Mauer berührte, geschah etwas Eigentümliches – es war ihm als ziehe innerhalb weniger Sekunden seine ganze Mission noch einmal vor seinem inneren Auge vorbei: Das Klingeln des Telephons in seinem Garten in Senpuav, die Rettung des Senegalesischen Staatspräsidenten in Dakar, der Hunger auf dem Roten Platz in Moskau, die Verfolgungsjagd auf der Chinesischen Mauer bei Peking, das Bad in einem Waldsee auf der Schären-Insel Möja, die Kimchi-Recherchen auf dem Markt von Gwangju, der Uhrenfund in der Wüste von Sharjah, die Bootsfahrt durch Bangkok, die Suche in den Tempeln von Angkor Wat, die Kirschblüten in den Gärten von Tokio, der Traum am Fuss des Ayers Rock im Zentrum von Australien, das Blasmusikkonzert auf einem Dach im Syrischen Homs, die Fahrt im Gummiboot über den Beagle-Kanal in Feuerland, das Eis der Antarktis und zuletzt die Süsse der Passionsfrüchte in Kinshasa.

Die Mauer kam ihm vor wie eine riesige Sammlung von Verbindungsstellen in die Vergangenheit und auch in die Welt hinaus – wobei die zeitliche Distanz für das Gefühl, das die Berührung mit diesen Steinen provozierte, weit wichtiger war als die räumliche. Ein Satz von Anatole A. Sonavi kam ihm in den Sinn, der behauptete, dass das Reisen eigentlich keine Frage des Raums sei, sondern in erster Linie eine Frage der Zeit.

Es war klar, dass eine Mauer, auf die Millionen von Menschen seit Hunderten von Jahren fast ohne Unterbrechung ihre ganze gläubige Energie projizieren, auch einen Hektor Maille nicht ganz kalt lassen würde. Gewissen Dingen kann man sich einfach nicht entziehen, auch wenn man im Grunde überzeugt ist, dass auch diese Mauer nur aus ein paar dicken Steinen gebaut ist.