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Colonia de Sacramento (Uruguay)
Paseo de San Gabriel
Montag, 4. März 2013

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Gerne möchte man sich den Raum seiner Erinnerung als ein tiefes Gewässer vorstellen. Die Wasseroberfläche wäre die Gegenwart, die Schnittlinie zwischen den Luftwirbeln der Zukunft und dem flüssigen Glas der Vergangenheit. Je jünger die Erfahrungen sind, desto näher sind sie der Oberfläche – ihre Bilder präsentieren sich hell und klar umrissen. Je mehr Zeit vergeht, desto tiefer sinken sie. Sie erscheinen uns dabei zunehmend dunkel, verschwommen, verzerrt. Irgendwann sind sie nur noch ein undeutlicher Schatten, eine ferne Ahnung, kaum mehr von ihrer Umgebung zu unterschieden – gerade dann allerdings können einzelne auch verführerisch funkeln. Unser Erinnern ist in dieser Vorstellung das Licht, das sich durch das komplexe Linsensystem des Wassers in die Tiefe bricht – mal zielgerichtet eine bestimmte Sache beleuchtet, mal auf eine andere abgelenkt wird. Der Boden des Gewässers wäre der Limes aller Erinnerung – die Grenze zum Nichts oder wenigstens zu jenem Bereich, der vom Bewusstsein nicht mehr erreicht werden kann.

Diese Vorstellung unserer Erinnerung ist schön und schlüssig – aber natürlich falsch. Denn tatsächlich ist die Erinnerung eine trübe Suppe, in der die Dinge kreuz und quer durcheinander schwimmen. Sie werden genauso plötzlich an die Oberfläche geschwemmt, wie sie unvermittelt abtauchen können. Sie kommen uns auch längst nicht nur in den Sinn, sondern stossen uns an die Füsse, bringen uns zum Schwitzen, reissen an unseren Geschlechtsteilen, kitzeln uns in der Nase oder legen sich eiskalt in unseren Bauch. Natürlich ist das Erinnerungsgewässer so schlammig weil der Boden ständig aufgewühlt ist, weil sich der Grund ständig einmischen will. Nur was fangen wir mit diesem Wissen an?

Auch der Rio de la Plata ist eine undurchsichtige Sache – ein Gewässer, das aussieht, als sei es im Begriff, Erde zu werden. Wir sind es gewohnt, dass Tümpel, Seen oder Flüsse voller Schlamm sind, etwa nach heftigen Regengüssen. Der Rio de la Plata aber ist immer braun wie flüssige Erde, auch wenn lange kein Regen gefallen ist. Ausserdem ist er so breit, dass wir das gegenüberliegende Ufer nicht erkennen – und so tief, dass auch mächtige Schiffe darin fahren können. Deshalb ist dieser Fluss für unser Auge und Empfinden auch eher ein Ozean. Und als Ozean nährt er in uns die Vorstellung, der Weltgrund insgesamt könnte plötzlich so aufgewühlt sein, dass das Meer seine Transparenz verlöre und sich zu einer grossen Suppe verdicke, in der die Kontinente wie Croutons trieben.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Chivito (Sandwich mit Rindersteak, Rohschinken, Zwiebel, Lattich, Tomate und Chimichurri-Sauce)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 23-4-2013

Modifications: 28-6-2013