Im Januar 2015 hat die Kunsthistorikerin Sophie Labanne in den Archives Nationales eine alte Speisekarte gefunden – von Hand geschrieben und mit farbigen Zeichnungen verziert. Sie stammt aus dem Restaurant «Le Sourire» in La Puiguignau und wurde ihrer Ansicht nach in den Jahren zwischen 1903 und 1908 von einem Monsieur Paul entworfen, den Labanne mit Paul Gauguin identifiziert. Vor allem will sie auf dem Blatt die Handschrift des Künstlers erkennen – charakteristisch sei etwa die Art, wie der Buchstabe «S» geformt sei, doch auch das grosse «D», das stets isolierte kleine «o» und weitere Buchstaben seien typisch für die Hand Gauguins. Das Dokument kam als Erbschaft der Schwestern Teura und Tahia in staatlichen Besitz – zusammen mit einigen Antiquitäten, Schulbüchern und Kochbüchern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im April 2015 hat Labanne einen Scan des Blattes an einen Graphologen nach Paris gesandt, dessen Expertise noch aussteht. Liegt diese einmal vor und fällt sie im Sinne von Sophie Labanne aus, will sie die Speisekarte in der nächsten «Revue historique» publizieren.
Die aquarellierten Bleistiftzeichnungen auf dem Menu-Blatt sind gut erhalten: Man erkennt eine Blume, eine Lotosblüte mit dem Schriftzug «Le Sourire», einen Wasserfall, eine sitzende Schönheit, eine Krabbe und einen Vogel mit einem mächtigen roten Schnabel. Eine Ranke verbindet die unterschiedlichen Motive miteinander. Deutlich schlechter erhalten ist die Schrift. Offenbar hat jemand versucht, den mit Bleistift geschriebenen Text auszuradieren – vielleicht, um die Speisekarte mit ihren hübschen Zeichnungen für die Präsentation eines neuen Menus zu verwenden. Was aber dann doch nicht geschah, vielleicht weil sich die Bleistiftschrift zu fest ins Papier eingesenkt hatte. Die Radierkraft schwächt sich von oben links nach unten rechts allmählich ab – man sieht förmlich die Hand, die allmählich an Elan verliert.
In der Mitte der rechten Seite hat das Blatt einen Feuchtigkeitsschaden erlitten, hier ist die Schrift fast gar nicht mehr lesbar. Es finden sich auch Ölflecken auf dem Blatt, Spuren von Kaffeetassen, Weingläsern und möglicherweise Blut. Das ganze Menu ist auf die Rückseite einer Lithographie gesetzt, die eine «Vue générale de l'intérieur» der Kathedrale von Strasbourg im Elsass zeigt – der Druck stammt wohl aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Labanne nimmt an, dass die Karte den Gästen des «Sourire» in einer Mappe präsentiert worden ist – darauf deuten auch die Klebespuren hin, die sich auf der Rückseite des Menus finden.
Labanne hat sich die Mühe gemacht, das ganze Speiseangebot zu entziffern – was teilweise nur mit einer starken Lupe, einem speziellen Licht oder dank elektronischer Vergrösserung möglich war. Das Ergebnis hat sie dann mit Hilfe von Angelique Souret von der Firma «Lapure», einer Spezialistin für das Essen aus dem Restaurant «Le Sourire», nachbearbeitet, teilweise übersetzt, kommentiert etc.
Wir geben hier die Details des Menus wieder – soweit sie rekonstruiert werden konnte. Kurze Erklärungen oder Kommentare sind in Klammern dazu gesetzt. Vier der Rezepte aus dem «Sourire», die wie auf unseren Seiten vorstellen, sind auf dieser Karte verzeichnet, vielleicht sogar fünf.
Bei den Menu-Punkten auf der linken Seite, die relativ gut zu entziffern sind, handelt sich offenbar um Vorspeisen:
Auch die Schrift in der Mitte der Karte, unmittelbar rechts des Lotusstängels, ist ziemlich gut lesbar – hier werden offenbar ein paar Beilagen aufgezählt:
Von dem Text in der Mitte der rechten Seite haben sich nur Spuren erhalten. Offenbar ist da eine Flüssigkeit ausgelaufen und wurde wohl mit einem Tuch weggewischt, wobei die oberste Schicht des Papiers abgerieben wurde. Wo die Rekonstruktion unsicher ist, haben wir je nach Grad ein bis drei Fragezeichen davor gesetzt:
Die Nachspeisen, die darunter aufgezählt werden, lassen sich wiederum problemlos entziffern:
Auf dem gelben Halbkreis am unteren Rand der Karte liest man ausserdem: «TE TAHI MAU' INA'I RI'I NO TE MOANA / TE PAPA» – offenbar die Anpreisung einer Meeresfrüchteplatte, mit besonderem Hinweis auf die darin vorkommenden Krabben (te pāpa).
Insgesamt ein stattliches Menu. Sophie Labanne und Angelique Souret meinen indes, dass Teura und Tahia, die Wirtinnen des «Le Sourire», wohl jeweils nur einen Teil dieser Speisen auch tatsächlich im Angebot hatten. Sie glauben übrigens auch, dass wohl die Schwestern selbst versucht hatten, die Schrift ganz auszuradieren.
First Publication: 5-6-2015
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